Buchkritik: „Hier gilt’s der Kunst – Wieland Wagner 1941 – 1945“, Anno Mungen

„Hitler-Wagner ist eine Einheit, über die die Geschichte längst ihr Urteil gesprochen hat.“ Nein, im neuen anzuzeigenden Buch ist ausnahmsweise mal nicht von Richard, sondern von Wieland die Rede, auch wenn sich der Satz, den der thüringische Beauftragte für Kultur und Erziehung kurz nach Kriegsende in einem Brief an Kurt Overhoff (ich verweise auf Adrian Müllers exzellente Biographie des Musikers, die jüngst erschien) notierte, auf den Großvater bezieht.

„Hier gilt‘s der Kunst“, so heißt das bekannte Zitat aus dem zweiten Meistersinger-Akt, dass die beiden Wagner-Urenkel – als Verantwortliche fürs ganze Unternehmen – während der ersten Bayreuther Nachkriegsfestspiele als Direktive zur Vermeidung politischer Gespräche am Hügel aushingen. Dass Wieland Wagner, der schon mit seinen 1951er-Inszenierungen einen neuen inszenatorischen Weg beschritt, der (auf den ersten Blick) wenig mit der sog. Nazi-Ästhetik zu tun hatte, als Günstling Adolf Hitlers und erfolgreicher Hitler-Fotograf ein Nutznießer der Politik war, ist seit langem bekannt; er selbst hat nach 1945 kein Wort über seine Vergangenheit geäußert, als habe es eine Stunde Null gegeben, die all das ungeschehen machte, was Anno Mungen in einem neuen, schmalen und ergiebigen Buch zutage gefördert hat. In den letzten zehn Jahren hat sich, nicht zuletzt aufgrund des 100. Geburtstags Wieland Wagners, die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Regisseur und Protagonisten der Zeitgeschichte sichtlich verstärkt – Mungen greift nun nicht allein auf die bekannte Literatur, sondern auch auf Quellen zurück, die der Auswertung noch harrten: Zeitungsberichte mit inhaltlich relevanten Abschnitten, Briefe aus dem Nachlass Wieland und Wolfgang Wagners, Altenburger Material, nicht zuletzt das dato unpublizierte und unerschlossene Tagebuch Gertrud Strobels, die zusammen mit ihrem Mann Otto Strobel das Wagner-Archiv gehütet hat. Die „Chronik des Alltäglichen“, wie Mungen die Aufzeichnungen bezeichnet, bietet denn doch mehr als den Kriegsalltag und das bisher über Wielands frühe Bayreuther Existenz Bekannte. Es ergänzt in wesentlichen Teilen jene Passagen, in denen tatsächlich von jener Kunst die Rede ist, die noch bis 1944 – auch unter dem unmittelbaren Schutz Adolf Hitlers – prachtvoll gedieh. Wieland hat, Mungen nummeriert das deutlich genug durch, nicht weniger als 12 Inszenierungen vorgelegt, während die Welt unterging und allmählich befreit wurde. In keinem anderen Buch über Wieland Wagner findet sich die komplette Folge aller Arbeiten, die Wieland Wagner 1942 bis 1945 als Regisseur oder Bühnenbildner zu verantworten hatte (1942 beginnt, nach einem ersten Bühnenbild für den 1937er-Parsifal, mit dem Nürnberger Bühnenbild zum Holländer die Reihe von Wielands Arbeiten zu Stücken seines Großvaters, 1943 erlebt Die Walküre in Nürnberg ihre erste „richtige“ Wieland-Wagner-Premiere).

Für den Hinweis auf Max Wiskott, der den jungen Wagner in Sachen Beleuchtungstechnik beriet, muss man beispielweise dankbar sein, denn in Renate Schostacks Gertrud-Wagner- und in Brigitte Hamanns Winifred-Biographie war von ihm nur am Rande die Rede. Nur manchmal bricht der Theaterhistoriker in Mungen durch, der dem Leser erklären muss, was Theater eigentlich ist: dass es „flüchtig“ sei und sich „nur im Hier und Jetzt auf der Bühne“ entfalte, ist eine Plattitüde – und dass es die Geschichten der Opern seien, „deren Inhalte die Werke zum Kernrepertoire des deutschen Großbürgertums“ machen würden: diese Aussage ist im Buch eines Musikwissenschaftlers, der es besser wissen sollte, nun ja, erstaunlich. Unklar bleibt zudem, was mit folgender seltsamer Formulierung gemeint ist: „Wagners Raumbühne, die auf Hitler zurückgeht…“ – die Andeutung suggeriert einen Zusammenhang, der, so gewichtig behauptet, belegt werden müsste. Egal – es tangiert nicht das Wesentliche: die enge Verflechtung von Wielands künstlerischer Laufbahn und die Zeit, in der sich seine Geschichte gespenstisch spiegelt.

Wieland Wagner und seine Frau Gertrud waren nicht allein dabei, als es galt, die „arisierten“ Güter ausgeraubter Juden an sich zu reißen. Der ungesund ambitionierte Jung-Regisseur war auch darin erfolgreich, dass es ihm zumindest gelang, den Bühnenbildner Emil Preetorius förmlich wegzubeißen, als es darum ging, zum neuen Herrn am Hügel aufzusteigen. Dass sich die Polemik gegen Preetorius‘ vorsichtigen Expressionismus durchaus mit eigenen Neuerungstendenzen vertrug, die der erste große Mann an der Münchner Nachkriegs-Staatsoper, Rudolf Hartmann, in einem internen, hier zum ersten Mal ausgewerteten Kommunique als gegen die „Werktreue“ gerichtet empfand: es ist eine der originellen Pointen des Buchs. Sie vermag uns etwas über die Anlagen des Szenikers Wieland Wagner mitzuteilen, der 1951 nicht aus dem Nichts kam. Im Gegenteil: schon seine Altenburger Ring-Inszenierung, die neben der Nürnberger entstand, als alles schon zu spät war für einen „Endsieg“, enthielt abstrahierende Elemente, die nach dem Krieg verabsolutiert wurden. Genaueres und Widersprüchlicheres (denn obwohl die Presse gleichgeschaltet war, gab es durchaus abweichende Meinungen über das, was „Stil“ und „Werktreue“ hieß) über diese frühen Ring-Aufführungen kann man nirgends lesen. „Die Nazis forcieren Wagners reduzierenden Stil“, schreibt Mungen und kann darauf verweisen, dass die Tradition zwischen den revolutionären Entwürfen Adolphe Appias, den Wieland-Arbeiten der NS-Bühne und der von allem Gegenstand befreiten „Koch-Scheibe“ Neu-Bayreuths eng war. Gleichzeitig blieb der Enkel Richard Wagners bis zuletzt der überzeugte Hitlerianer, der, so Mungen, den Parsifal noch Anfang 1945 „nationalsozialistisch passfähig“ machen wollte. Dass am 19. Dezember 1943 das Nornen-Seil, so wollte es der Regisseur, nicht riss, aber just am Tag der Bayreuther Premiere von Siegfried Wagners An allem ist Hütchen schuld die Alliierten in der Normandie landeten, passt zum ästhetisch-politischen Befund: Wieland Wagner ging, vertrauend auf den „Endsieg“, in dem ein Seilriss nicht vorgesehen war und ein Ring-Finale grün wie die Hoffnung aufleuchtete, seinen vom System beschirmten, krankhaft ehrgeizigen Weg: bis hin zur wie auch immer aussehenden Arbeit im Bayreuther Außenlager des KZs Flossenbürg.

Mungen hat seine Chronik der Ereignisse, mit genauen Rückblicken, in kleine Absätze eingeteilt, hat Bilddokumente, auch das Banale, das 1942 bis 1945 seinen eigenen Sinn hatte, beschrieben, um die bekannten Informationen mit den gar nicht so wenigen neuen zu einer Zeitgeschichte des allmählichen Untergangs zu kompilieren, in dem die Kunst, betrieb man sie wie Wieland Wagner, keine Chance hatte, ihre Autonomie zu bewahren – „schöne“, „stimmungsvolle“ Aufführungen hin oder her. So gesehen, hat sich Wieland Wagner selbst das Urteil gesprochen. Dass er es später erkannte, vielleicht sogar vor sich selbst anerkannte, kann zumindest zu seinen Gunsten vermutet werden, wenn wir denn nicht annehmen wollen, dass er der Opportunist blieb, der er schon immer war. Anno Mungens Buch ist ein schmaler, aber gewichtiger Beitrag zum spannenden Thema und Menschen Wieland Wagner.

Frank Piontek, 5. Juni 2023


Anno Mungen: Hier gilt‘s der Kunst.

Wieland Wagner 1942-1945.

Westend Verlag 2021. 160 Seiten. 18 Euro.