Buchkritik: „Stockhausen – der Mann, der vom Sirius kam“

Leben und Werk eines der Meister der Avantgarde und vor allem eines Pioniers der elektronischen Musik in einem Comic darzustellen, mag wagemutig, wenn nicht fast unmöglich erscheinen. Aber das hat man von Art Spiegelmans Auschwitz-Comic „Maus“ auch gedacht und der hat Geschichte geschrieben. Diese schwarz-weiß gezeichnete „Geschichte eines Überlebenden“ schafft gerade durch die mehrfache Brechung als Tierfabel und eben Bildergeschichte eine Distanz, die letztendlich einen viel intensiveren Zugang zu so etwas Unvorstellbarem wie dem Holocaust ermöglicht. Wer „Maus“ auf sich hat wirken lassen, hat den eigentümlichen Sog dieser 1989 erschienenen Reflektion auf die eigene Familiengeschichte Spiegelmans verspürt und womöglich festgestellt, daß die Verarbeitung eben durch die distanzierte Darstellung subkutan und verzögert, aber wirkmächtig einsetzt und sich sogar in die eigenen Träume schleichen kann.

Ähnlich stark wirkt „Stockhausen – Der Mann, der vom Sirius kam“, erdacht und getextet von Thomas von Steinaecker, der lange Jahre mit dem Komponisten befreundet war, und gezeichnet, ja oft explosiv gemalt von David von Bassewitz. Die Bezeichnung „Comic“ ist in den vergangenen Jahren oft durch „Graphic Novel“ ersetzt worden, gerade, wenn der Inhalt alles andere als komisch im ursprünglichen Wortsinn ist, und es sich um ein Buch in so bibliophiler Aufmachung wie dem vorliegenden handelt. Aber auch diese Bezeichnung trifft, ebenso wie „Comicroman“ oder „Graphischer Roman“, das Medium noch nicht ganz, was vielleicht auch an der unglaublichen Vielfalt an Genres, Themen und Darstellungsweisen liegt.

„Stockhausen“ zitiert selbst andere Comics wie beispielsweise „Asterix“ mit der Lupe auf dem Eingangsbild, die statt des kleinen gallischen Dorfes das Heimatdorf des Autors vergrößert. Zwei Agenten namhafter Klassiklabel laufen in die Szene wie Schulze und Schultze aus „Tim und Struppi“. Solche humorvollen Reminiszenzen stehen dem bitteren Ernst anderer Passagen spannungsreich gegenüber, ebenso wie das Buch zwei Geschichten erzählt. Einerseits ist es die des jungen von Steinaecker, der schon als frühreifes Kind beginnt, sich für die experimentelle Musik des Avantgardisten zu begeistern, andererseits werden vor allem Stockhausens Werdegang, Leidensweg, innere Entwicklung, Scheitern, Erfolg und Persönlichkeit nachgezeichnet. Dieser Begriff ist jedoch viel zu schwach, um die mitunter ungeheuer ausdrucksvollen, farbschreienden Bilder zu umreißen, die vor allem die Dramen des Zweiten Weltkrieges in Stockhausens Vita nachempfinden. Diese charakterisiert eine deutlich realistische Darstellung, während die Geschichte des jungen Autors skizzenhaft, ja comic-artiger wirkt. So tritt der Comicszenarist, der auch als Schriftsteller, Filmregisseur, Hörspielautor, und Journalist arbeitet, bescheiden hinter dem Objekt seiner Verehrung zurück, ein ausgesprochen sympathischer Kunstgriff.

Die geschickte Technik der dialektischen Gegenüberstellung von weit auseinanderliegenden Darstellungsformen, die beim Leser ein Auffüllen des Zwischenraumes evoziert, funktioniert bei „Stockhausen“ im beschriebenen Spiel mit manchmal hingehuscht wirkender Skizze und ausgearbeitetem, hochrealistischem Detail. Das mag jetzt etwas intellektualisiert klingen, beschreibt aber den Charakter dieses Buches und – seien wir ehrlich – Stockhausens Programmatik ist in der Tat durchintellektualisiert.

Um es einfacher auszudrücken: Zeichner und Texter schaffen es, auch komplexe Zusammenhänge greifbar und sinnlich erfahrbar zu machen und in der Leserschaft ein Gefühl dafür zu wecken, worum es Stockhausen wirklich ging, weil eigene Denkvorgänge angeregt werden. Vor allem entstehen durch die Beschreibung der beiden Kindheiten im 3. Reich und den späten 80er Jahren Identifikations- und Erinnerungsmarken, da der größte Teil der Leserinnen und Leser viele der Aspekte aus dem eigenen Leben und/oder dem der beiden Vorgängergenerationen kennt.

Die Zeichnungen füllen oft eine ganze Seite oder sogar Doppelseiten, was eine unwiderstehliche Anziehungskraft und Stärke in der Vermittlung von Emotionen erzeugt. Beispielsweise entwirft das riesige Bild eines nur skizzierten Auges, in dem sich Licht und eine Treppe spiegeln, eine Ahnung von Transzendenz und spiritueller Erfahrung.

Die psychische Erkrankung der Mutter Stockhausens und die Schrecken des Zweiten Weltkriegs sind in reduzierter Farbigkeit wiedergegeben, in der blutiges Rot und die in dicken schwarzen Strichen gemalten Befehle oder Schreie heftige Akzente setzen. Auf klassische Lautmalereien wie „Roooaaarrr!“ oder „Brummmm!“ wird verzichtet, allein die Farben schreien, knallen und explodieren. In expressivem Rot erscheinen Blut und Lärm, aber auch Noten und Melodien; die Farbe steht auch in diesem Werk für Leben und tödliche Verletzung zugleich.

Die inhaltliche und formelle Kongruenz ist durchweg ungemein dicht, was auch respektive des anspruchsvollen Inhalts, den Charakter Stockhausens und seine Musikprogrammatik zu fassen und zu vermitteln, absolut unabdingbar ist. Man begleitet ihn beispielsweise bei der Verfertigung seiner Gedanken auf einem Spaziergang durch Paris im Jahre 1952. Aus dem roten Ballon eines Buben lösen sich Farbkleckse, die zu Kreisen und Punkten werden und sich grell vor der symmetrisch geplanten barocken Gartenarchitektur aus der Vogelperspektive abheben. „Aber…“, eröffnen sich die Reflektionen des Komponisten, „…das ist es! Eine Musik, die den Menschen die neue Ordnung vorführt! Zehn vollkommen individuelle Musiker…die nach und nach ihre Gegensätze verlieren…und schließlich in einen Zustand der Reinheit und Einheitlichkeit eingehen…Dieser ganze Prozeß aus Freud und Leid…ein kosmisches Spiel nach genauen Regeln…und wir Menschen darin nichts anderes als Punkte! Kontra-Punkte!“

So bekommt man allmählich eine Ahnung von den Klangidealen und der künstlerischen Spiritualität Stockhausens, die vom Chaos zur Ordnung finden will und stets in die Zukunft und an der Grenzerfahrung orientiert ist.

Die Pariser Kunst- und Musikszene mit teils wunderbaren kleinen Portraits wie zum Beispiel des selbstgefälligen Darius Milhaud wird ebenso illustriert wie die mühsame Schnittarbeit im Tonstudio ohne die Unterstützung moderner Computer. Man begleitet Stockhausen durch die Studenten- und Hippiebewegung und bei seiner Auseinandersetzung mit allen namhaften Tonkünstlern seiner Zeit, die auch vom jungen Thomas von Steinaecker reflektiert wird, bis er dann das Treffen von Idol und Bewunderer schildert. Mit dem Jahr 1989 beginnt und endet das Buch, an dessen Schluß die Ankündigung eines Folgebandes steht.

Beim Lesen entsteht ein wahrhafter Appetit, sich mit dem Werk Stockhausens intensiver auseinanderzusetzen und wer noch nichts oder wenig von ihm gehört hat, dem werden ganz am Ende 10 sehr unterschiedliche Stücke empfohlen, die ein vielfältiges Spektrum der Musik eines der wichtigsten Komponisten des 20. Jahrhunderts abbilden. Damit hat das Buch wirklich etwas erreicht, abgesehen davon, daß es das besonders gelungene Beispiel einer Biographie in ungewöhnlichem Format ist.

Eine der jüngeren Aussagen Stockhausens ist Vielen noch in zweifelhafter Erinnerung, als er die Terroranschläge vom 11. September 2001 mit einem Kunstwerk verglich: „Daß also Geister in einem Akt etwas vollbringen, was wir in der Musik nie träumen könnten, daß Leute zehn Jahre üben, total fanatisch, für ein Konzert, und dann sterben. Und dann werden 5.000 Leute in die Auferstehung gejagt.“ Man kann versuchen, so etwas systemimmanent zumindest theoretisch nachzuvollziehen, aber da hat Stockhausen eine rote Linie überschritten, zumal im Zeitalter massenmedialer Blitz-Verbreitung. Als er anschließend zu den betroffenen Journalisten meinte: „Ist ja irre. Schreibt nicht ausgerechnet das, was ich da am Schluss gesagt habe. Das muß ja nicht alles gleich multipliziert werden, ist ja blöd.“, war es zu spät. Der Satz war heraus und sofort in der Welt. Vom gern martialisch schreibenden Ernst Jünger war man so etwas gewohnt, aber den feinnervigen Stockhausen schrieben zahlreiche ehemalige Bewunderer als komplett verrückt geworden ab.

So einfach ist das nicht und vor allem charakterisiert diese Entgleisung nicht den Menschen, Philosophen und Kunstschaffenden Karlheinz Stockhausen. Genaues Hinsehen lohnt und dafür ist „Stockhausen – Der Mann, der vom Sirius kam“ ideal.

Andreas Ströbl, 26. Februar 2023


Thomas von Steinaecker und David von Bassewitz

Stockhausen – Der Mann, der vom Sirius kam.

Carlsen, Hamburg 2022, 392 S., Comic, € 44,00, ISBN: 978-3-55