Buchkritik: „Der Dirigent Hans Swarowsky“

Höchsten Respekt nötigt der mehr als tausend Seiten umfassende Band über Leben und Werk von Hans Swarowsky ab, nicht nur wegen seines ungewöhnlichen Umfangs, sondern vor allem wegen der Vielfalt der Themen, die von unterschiedlichen Verfassern zu unterschiedlichen Zeiten (einige sind inzwischen verstorben)  geschrieben wurden oder als Referate bei Symposien gehalten wurden. Der Titel Der Dirigent Hans Swarowsky (18991975) allerdings spricht nur eine Seite der schillernden Persönlichkeit an, die vor allem als Lehrer berühmter Dirigenten bekannt ist. Schüler von Hans Swarowsky gewesen zu sein, entspricht schließlich in Musikerkreisen beinahe einem Adelsprädikat, und das Buch spart zum Glück auch nicht aus, was den österreichischen Musiker vor allen anderen und ganz besonders ausmachte. 

Die meisten, insbesondere die einer chronologischen Gliederung unterworfenen Beiträge stammen von Erika Horvath, die beiden Herausgeber Markus Grassl und  Reinhard Knapp sind ebenfalls mit einigen Kapiteln vertreten und betonen in ihrem Vorwort, dass eine der Schwierigkeiten bei der Herausgabe des Buches das dichte Nebeneinanderliegen von Dichtung und Wahrheit war, in der dem Vorwort folgenden Einleitung weisen sie darauf hin, dass der Gegenstand ihrer Bemühungen zugleich, und das betrifft die Nazizeit, Gefährdeter und Belasteter war, also quasi über eine „doppelte Vergangenheit“ zu berichten ist. Künstlerisch sehen sie Swarowsky als sich auf einer Kreuzung von Traditionslinien bewegend, weisen auf den Einfluss von Schönberg, Webern und Mahler hin, auf die Beziehungen zu Strauss und Weingartner, sehen ihn in der Konfrontation Toscanini-Furtwängler auf der Seite des Italieners stehend. In vielem greifen die Herausgeber den folgenden Artikeln vor, so wenn sie davon schreiben, wie Swarowsky Maßstäbe setzte in der Interpretation, wie er für die Akademisierung der Musikerausbildung sorgte und wie ihm gerade dies das Prädikat einbrachte, zwar ein guter Lehrer, aber kein besonders guter Dirigent zu sein. Schillernder könnte kaum eine Persönlichkeit sein als die im Buch dargestellte, wobei die uneheliche Geburt, die Tatsache eines jüdischen Vaters und das enge Verhältnis zu Hans Frank ebenso wie wahrscheinliche Spionagetätigkeit für die Alliierten und der Verdacht monarchistischer Gesinnung wie der einer Mitgliedschaft in der KPÖ dazu beitragen, dass man von einer „Ambivalenz von Verstrickung und Distanz“ sprechen kann. Sogar mit dem Gedanken, in die DDR überzusiedeln, soll der in vielen Facetten Schillernde gespielt haben.

Was in der Einleitung bereits angeschnitten wurde, wird von Erika Horvath und anderen anschließend in schöner und kompetenter Ausführlichkeit  dargestellt, wobei das Wissen des Lesers nicht nur um eine Fülle von Fakten über Leben und Werk Swarowskys bereichert wird, sondern auch ein tiefer Einblick in das kulturelle Leben nicht nur im Habsburgerreich, sondern später, als Swarowsky auch in Stuttgart, Gera, Hamburg und Berlin, in Zürich und schließlich in Krakau tätig ist, in das der jeweils betroffenen Region, gewährt wird. Dazu kann der Leser Bekanntschaft machen mit so ziemlich allen maßgeblich die Kultur Mitteleuropas Gestaltenden, sei es Clemens Krauss, Richard Strauss, man kann sie nicht alle aufzählen und wird in den Kampf um die Gestaltungshoheit an vielen bedeutenden Kulturinstitutionen wie der Berliner Staatsoper mit hineingezogen. Immer wieder gibt es Hinweise auf die blühende Phantasie Swarowskys, was zum Beispiel seinen Vater betrifft, wofür sogar ein Erzherzog herhalten muss, weniger lustig ist, dass er seine Haut nur retten kann, indem die Mutter anstelle des tatsächlichen einen Vater aus der Verwandtschaft herbei zaubert, um den Sohn zum Arier zu machen.

In mehreren Beiträgen wird der Leser darüber informiert, dass Swarowsky nicht nur Dirigent und Lehrer vieler späterer Dirigenten (Zubin Mehta meldet sich in dieser Hinsicht und das nicht immer schmeichelhaft zu Wort) sondern auch Übersetzer von vor allem italienischen, aber auch französischen Libretti war, Mitwirkender beim Capriccio-Libretto und Entdecker von Sängern wie HiIde Güden und, wenn man seinen Feinden Glauben schenken darf, auch Führer eines nicht immer tadellosen Lebenswandels.  Der spielt allerdings beim auch für ihn notwendigen Entnazifizierungsverfahren keine Rolle, anders als seine Schutzbehauptung, er sei ein heimlicher österreichischer Nationalsozialist gewesen. Strauss und Krauss halten ihre schützenden Hände über ihn, in den Machtkampf zwischen Tietjen und Krauss gerät er, eine Anstellung im Reichspropagandaministerium wird ihm nach 45 fast zum Verhängnis. Nur durch ein gefälschtes Attest kann er sich  dem Einsatz für den Endsieg entziehen.

Durchweg lesen sich die einzelnen Kapitel wie ein Abenteuerroman, ohne jemals den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit aufzugeben.  So wird denn auch nicht unnütz darüber spekuliert, ob Swarowsky das Versteck seines Gönners Hans Frank nach dem Krieg verraten hat. Ob so vorsichtig formuliert  auch die psychologischen Gutachten der Amerikaner bei den Entnazifizierungsverfahren waren, daran sollte man keine strengen Maßstäbe anlegen.  

Im 3. Teil des Buches, der von den Jahren 1945 bis 1975, also bis zu des Dirigenten Tod, handelt, wird zunächst chronologisch und zwar weitgehend von Erika Horvath vorangeschritten, es gibt aber zugleich eine thematische Gliederung, so wenn Wilfried Koch sich der Nürnberger Ring-Aufnahme, Juri Giannini und Herbert Handt sich den Opernübersetzungen oder Martin Elste sich dem Schallplattendirigenten widmen. Und das ist längst nicht alles, was dem neugierigen Leser geboten wird, der gut daran tut, ohne den Ehrgeiz, das Buch in einem Atemzug verschlingen zu wollen, sich etappenweise darin voran zu arbeiten. Immer wieder wird er dabei auf das Hauptanliegen Swarowskys stoßen, schlampige Aufführungen zu bekämpfen, den Kampf um die Reinheit der Partitur zu führen. Eine „authentische Aufführungspraxis“, ab 1953 in einer Stilkommission zum Ziel erhoben, ist sein Bestreben, das sich auch in seinen ab 1958 regelmäßig an wechselnden Orten abgehaltenen Meisterkursen äußert.

Waren  in der ersten Lebenshälfte die uneheliche Geburt und die jüdische Abstammung für eine unterbrochene Karriere  und eine späte internationale  Anerkennung verantwortlich, so sind die von Manfred Huss im Epilog beschworenen „Mächte der Finsternis“ in der zweiten Lebenshälfte mehrere Krebserkrankungen.  Ob als solche der Dirigent selbst auch die von Reinhard Kapp in Der (Wiener) Swarowsky-Diskurs angeführten Negativurteile über ihn angesehen hätte, muss reine Spekulation bleiben. Das schlimmste davon dürfte ein „etwas Entscheidendes hat gefehlt“ sein, auch Mehtas: „Er ließ nicht musizieren“, dürfte ihn schmerzen. Aber selbst wenn der umfangreiche Band einiges Unerfreuliche über den Gegenstand seiner Betrachtungen zu berichten weiß, ist er doch ein gelungener Versuch, dem bisher von der Wissenschaft Vernachlässigten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. 

Nach 918 so spannenden wie Erkenntnisse vermittelnden Seiten wird man in einen Anhang von noch einmal weit über hundert Seiten entlassen, Verzeichnis der Aufnahmen, der Übersetzungen Swarowskys, der Editionen und Bearbeitungen Swarowskys, der Absolventen, Studenten und Hörer des Symposiumprogramms, ein Quellenverzeichnis, eine Bibliographie, ein Verzeichnis der Abkürzungen und ein Personen- und Werkregister enthaltend.

Ingrid Wanja, 14. Februar 2023


Der Dirigent Hans Swarowsky (1899 – 1975) – Musik, Kultur und Politik im 20. Jahrhundert

Hg. Markus Grassl und Reinhard Kapp

Wiener Veröffentlichungen zur Musikgeschichte 15

1052 Seiten

Böhlau Verlag 2022

ISBN 978 3 205 78497 5