Buchkritik: „Maria Callas“, Eva Gesine Baur

Maria Callas heißt das neue Buch von Eva Gesine Baur, und darunter kann man sich viel vorstellen: einen Roman, eine Biographie, eine wissenschaftliche Abhandlung. Die Stimme der Leidenschaft ist das Werk untertitelt, und nun erwartet man ein Buch, dass sich mit der Sängerin Maria Callas auseinandersetzt. Eine Biographie liest man in der untersten Zeile, und wieder ist offen, um was es sich bei den immerhin mehr als 500 Seiten umfassenden Werk handelt. Für eine wissenschaftliche Abhandlung sprechen die mehr als fünfzig Seiten Anhang, bestehend aus vierzig Seiten Quellennachweisen, einem Literaturverzeichnis, einem Bildnachweis und einem Personenregister. Auf einen fiktionalen Text hingegen weisen die Überschriften für die einzelnen Kapitel hin wie Die umschwärmte Verschmähte, denen wiederum drei oder mehr Untertitel folgen wie Omero Lengrini wird entbunden und stirbt, Callas ist noch immer nicht schwanger und zeigt sich in  knappen Bikinis. Dabei fällt auf, dass fortlaufend und in schöner Konsequenz mit Gegensätzen gearbeitet wird, ja dass die Verfasserin das Objekt ihrer Betrachtungen als eine Art Doppelperson, zerfallend in eine Maria und eine Callas, sieht. Sehnt sich Maria nach Liebe und Mutterschaft, so strebt Callas nach Ruhm und Reichtum und vor allem nach künstlerischer Bestätigung, nach Vollkommenheit und die beiden Komponenten   dieses Gegensatzpaars werden in schöner, manchmal auch penetrant wirkender Konsequenz durch das gesamte Buch hindurch begleitet, zu jedem Ereignis, zu jeder neu auftretenden Persönlichkeit werden nacheinander Maria und Callas oder umgekehrt Callas und Maria quasi befragt, wobei vieles belegt ist, wie die Anmerkungen beweisen, vieles aber auch Spekulation zu sein scheint, auf jeden Fall viele Seiten damit gefüllt werden können, ohne dass es immer zu einem bedeutenden Erkenntnisgewinn kommt. Das extremste Beispiel dafür ist der angebliche Sohn von Callas und Onassis, den sie sich, so wollten Gerüchte wissen, vor dem Geburtstermin aus dem Leib schneiden ließ, um dem Erzeuger des Kindes nicht mit dickem Bauch entgegentreten zu müssen. Diese Geschichte wird erst erzählt, damit sie dann ebenso ausführlich widerlegt werden kann. Spektakuläre Gegensätze wie Ausnahmetalent in Kittelschürze oder Musikstudentin auf Abwegen sind besonders beliebt und immer eindrucksvoll. 

Vor Eva Gesine Baur hatte bereits Pasolini erkannt, dass in Callas‘ Brust zwei Seelen wohnten: die einer antiken Tragödin und die einer modernen Frau, aber das ist eine andere Art der Gegenüberstellung als die von der Verfasserin praktizierte.

Dem Fiktionalen nähert sich die Autorin besonders dann, wenn sie vorgibt, die Gedanken von Callas zu kennen, Spekulationen sind dem Romanautoren durchaus erlaubt, ja erwünscht, auch Pauschalurteile wie die, dass Jackie, die Schwester, nach Geld, Maria aber nach Ruhm strebte. Und auch gewagte Thesen wie die, dass zur antiken Tragödie auch Vernunft gehört, erwecken das Erstaunen des Lesers.     

Nicht ganz sattelfest ist die Verfasserin, was Opernpartien, Opernarien und Opernsänger angeht. So war Benvenuto Franci nicht Dirigent (Das war sein Sohn Carlo.), sondern Bariton, will Amonasro Radames nicht „vernichtet sehen“, sondern zur Flucht animieren, ist Elena aus den Vespri nicht Königs-, sondern Herzogstochter, Imogen nicht Königin, hat Alfredo nur eine und nicht zwei große Arien, ruft Tosca nicht im 3. , sondern im 1. Akt dreimal „Mario“, singt Aida nicht im 1., sondern im 3. Akt „Oh patria“, können di Stefano und Björling nicht gemeinsam im Trovatore aufgetreten sein, ist Butterfly im zweiten und nicht im dritten Akt voller Freude, Norma hat nur zwei und nicht vier Akte, ist Verdis Jago kein Tenor. Das mögen Kleinigkeiten sein, sie zerstören aber das Vertrauen des Lesers in die Teile des Textes, die er nicht kontrollieren kann, weil ihm die Kenntnisse dazu fehlen.

Weite Teile des Buches gelten dem Berichten über Ereignisse, politische oder künstlerische, von denen irgendwann bekannt wird, dass Callas davon keine Kenntnis nahm, seien es Erfolge der Beatles oder seien es Unruhen in ihrer griechischen Heimat. Sie geschehen lediglich zeitgleich mit dem, was von Callas berichtet wird. So wird das Buch gespeist von einfühlsamen Betrachtungen über Karriere und Leben der Callas, aber auch von zum Verständnis ihrer Seelenlage oder ihres Handelns nicht notwendigen Abschweifungen oder Wiederholungen.   

Außer Maria Callas ziehen am Auge des Lesers, und das macht einen beträchtlichen Wert des Buches aus, Persönlichkeiten wie Visconti und Zeffirelli, Toscanini und Serafin, di Stefano und Simionato, Gorlinski und Legge, Onassis und …vorbei. Und die Autorin hätte noch mehr über nur am Rande gestreifte Ereignisse erfahren können, so von Fiorenza Cossotto, dass Zeffirelli nie mehr ein Wort mit ihr sprach, nachdem sie ihre Töne länger als Callas‘ Norma gehalten hatte, und Raina Kabaivanska hätte ihr davon berichten können, dass Callas sie nach den misslungenen Vespri in Turin mit nach Paris nehmen wollte, um sie zu einem Star zu machen. Was diese dann auch ohne Nachhilfe wurde.

Leider spricht das Buch zwar von vielen Fotos, es sind aber nicht viele davon in dem Band zu finden. Es ist eine reiche Materialsammlung, informiert sehr ausführlich, wenn auch natürlich nicht mit dem Wahrheitsgehalt eines Dokuments, über den Menschen Maria Callas und lässt denjenigen Leser etwas enttäuscht zurück, der gern mehr über die Besonderheit der Kunst der Ausnahmesängerin  erfahren hätte. 

Ingrid Wanja, 23. Februar 2023


Eva Gesine Baur: „Maria Callas“

C.H.Beck Verlag 2023

510 Seiten

ISBN 978 3 406 79142 0