CD: „Giuseppe Scarlatti“, I portentosi effetti della madre natura

Die Bayreuther Markgrafen pflegten schon seit dem 17. Jahrhundert die Gattung. Seit einigen Jahren wird daher das Markgräfliche Opernhaus dank der Musica Bayreuth, den kooperierenden Musikfestspielen Potsdam Sanssouci und dem Festival „Bayreuth Baroque“ mit passenden und qualitätvollen Produktionen bestückt. Umso schöner, dass viele dieser Attraktionen nachhaltig auf CD gebannt werden. Als hier 2022 ein Werk des bis dato nur schärfsten Opernfreunden bekannten Giuseppe Scarlatti gespielt wurde, brachten die Musikfestspiele eine Rarität nach Bayreuth, die den Freund der „alten Musik“ einfach nur erfreute. „Alte“ Musik? Die gibt es nicht, wenn das Ensemble 1700 unter seiner Chefin Dorothee Oberlinger die rekonstruierte Partitur, mit einigen reizvollen instrumentalen Ergänzungen, mit einem reichen Instrumentalensemble samt Schlagwerk (Kastagnetten!) so farbenreich und temperamentvoll spielt, dass man den damaligen Erfolg des Italieners gut nachvollziehen kann. Kein Geringerer als Carlo Goldoni hatte für das 1752 in Venedig aus der Taufe gehobene, dann in Berlin gespielte Dramma giocoso den Text geliefert: die Geschichte eines Kaspar Hauser, der von einem liebestollen Thronräuber um sein Erbe betrogen wurde. Natürlich geht am Ende alles gut aus – jeder Amant bekommt da sein Liebchen, jede Figur ihre Arien. Die Verwirrungen laufen nach jenem Muster ab, das den empfindsamen wie beweglichen Herzen angemessen ist: leidenschaftlich, witzig, humorvoll, gut pathetisch. Mit der Ausgrabung der Scarlatti-Goldoni-Komödie haben die Potsdamer also ihren Bayreuther Siegeszug genussvoll fortgesetzt, denn es macht schlichtweg Spaß, das Werk zu hören. So bietet die Ersteinspielung des Werks mit dem langen Titel bereits, nach Bononcinis „Polifemo“ und Telemennas „Pastorelle“, die dritte CD des „Ensemble 1700“ in einer Serie von erfolgreichen Produktionen. Hier musste der Editor quasi archäologisch vorgehen, indem er zwei vorhandene Quellen und weiteres Zusatzmaterial von Scarlatti und zwei Zeitgenossen miteinander verglich und widerspruchsfrei zusammensetzte.

Der Ton macht bekanntlich die erklingende Musik, nicht die ehrenwerte Philologie. Wer gefiel (mir) am besten? Lisaura. So heißt die unglückliche Ehefrau des Diktators Ruggiero, die die Amouren ihres notorisch untreuen Mannes mit Trauer beobachtet. Ihre beiden Arien changieren zwischen Wut (Trommelbässe!) und Melancholie; Roberta Mameli macht das fantastisch. Ausgestattet mit einem, wie die reinste Natur klingenden Legato vermag sie auch die erregten Koloraturen übergangs- und bruchlos zu gestalten, ja: In diesen Nummern merkt man, dass es keinen Sinn machen würde, die Arien um ihre Wiederholungsteile zu streichen. In Polifemo war sie eine wunderbare Circe, während Maria Ladurner dort die Venere sang, nun spielt sie eine der „Angestellten“, in die sich der komische Held beim ersten Anblick sofort verknallt. Maria Ladurner macht in der Blaufrau der Bürohandwerkerin Ruspolina vokal, wie gestisch die beste Figur – gleichermaßen attraktiv agiert die facility managerin Cetronella der Benedetta Mazzucato: schön, was da an Schmelz aus ihrer Kehle dringt, und sehr erheiternd, wie sie das Gespräch zwischen einer Tochter, die einen passenden Mann haben will, und ihrer Mutter, die derlei Ansprüche eher zurückweist, dialogisch aussingt. Cetronella und Ruspolina zanken sich selten, tun sie‘s, darf man getrost, zumindest von Ferne, an Susanna und Marcellina denken. Dorina, die Tochter des Kerkermeisters, ist eine kleine, aber (siehe die Arie, mit der der 2. Akt beginnt) dankbare Rolle; Dana Marbach steht ihren Gefährtinnen in nichts nach.

Bleiben die Männer: Rupert Charlesworth als vokal guter Celidoro, dem mit Filippo Mineccia witzigerweise ein höchst elegant artikulierender Altus als Diktator gegenübersteht, der lieber den verführerischen Frauen die Schuld an seinen Übergriffen gibt als eine Me-too-Debatte zu beginnen. Poponcino, der Bürobote vom Dienst und unstete Liebhaber Cetronellas, ist bei Niccolò Porcedda gut aufgehoben, zuletzt darf Joao Fernandes als Kerker- resp. Hausmeister einige dunkle Töne dazugeben.

Die Potsdamer komplettierten das Opus mit zwei Manuskripten aus Wien und Wolfenbüttel und bemerkenswerten, auch mit Pergolesi- und weiterer Scarlatti-Musik versehenen Zwischenspielen, in denen einige Instrumentalisten glänzen können: der Violoncellist Vladimir Waltham, die Fagottistin Makiko Kurabayashi (die auch eine von Dorothee Oberlinger bearbeitete Arie solistisch bläst), die Oboisten Shai Kribus und Roberto de Francescini, der Lautenist Axel Wolf. Die fantasievoll auszierende b.c.-Gruppe ist an sich schon exquisit: mit dem Harfenisten Maximilian Ehrhardt, der auch manch Arie (etwa die der Dorina, Akt II) melodisch und ohrenschmeichelnd begleitet. Dass und wie auch ein Scarlatti klingt, liegt bekanntlich weniger an den notierten Noten als an der Spiel-Art; mit Dorothee Oberlinger am Pult des Ensemble 1700 ist ein kräftiger, agiler, auch lyrisch beseelten Zugriff garantiert, die die durchaus charakterisierende Musik des  Scarlatti, Giuseppe, herzhaft macht. „Fünf Minuten vor Mozart“, so lautet der Werbespruch im guten Büchelchen zur Einspielung. Ich würde sagen: Fünf Minuten vor dem frühen Mozart – und der hat ja, mit seiner Verbindung zur späten süddeutsch-italienischen „Barock“-Musik, noch durchaus etwas Formelles an sich. Der Rest ist der literarisch-klangliche Charme und der Witz eines heiteren Stücks über die Operation am „lebenden Herzen“, wie Choderlos de Laclos das genannt hätte.

Frank Piontek, 8. Juni 2023


Giuseppe Scarlatti / Carlo Goldoni

I portentosi effetti della madre natura

Ensemble 1700

Leitung: Dorothee Oberlinger

deutsche harmonia mundi