CD: „Schubert: Winterreise“, Andrè Schuen

Mehr als ein Soundtrack

Viel zu schade dafür, nur als Soundtrack für den Sony-Animations-/Live-Action-Film A Winter’s Journey von Alex Helfrecht zu dienen und eventuell von einer dominanten Optik in den visuellen Schatten gestellt zu werden, ist die von der Deutschen Grammophon verantwortete Aufnahme von Schuberts Die Winterreise mit dem Südtiroler Bariton Andrè Schuen und seinem Begleiter Daniel Heide. Das Cover der CD bemüht sich darum, den Hörer auch optisch auf den berühmten Zyklus einzustimmen, denn der Sänger erscheint dort wie der Müllerbursche gegen Ende seiner Reise, unrasiert, mit Reif und Schneeflocken in Bart und Haupthaar und so düsterem Blick, dass man ihm seine im Booklet geäußerte Meinung abnimmt, der Leiermann sei der Tod, dem der von der untreuen Müllerin enttäuschte Geselle willig folgt.

Am 17. Mai, dem Tag des Erscheinens der CD, konnte man im Morgenmagazin der Öffentlich-Rechtlichen bereits kurze Kostproben aus Frühlingstraum nicht genießen, denn er wurde in kleinsten Portionen, alle künstlerischen Zusammenhänge missachtend, dargeboten, eine beinahe schon kriminelle Missachtung klassischer Musik. Umso mehr erfreut die CD selbst, zu der sich der Sänger auch selbst äußert, betont, dass das Stück vom Beginn seiner Laufbahn an im Zentrum seines künstlerischen Bemühens stand und steht, dass die Interpretation sich wandelte, augenblicklich eine „ergebnisoffene“, d.h. eine sich im Verlauf eines Konzerts erst ergeben könnende ist.

Vom ersten Lied an ist dem Hörer klar, dass ein so dunkel timbrierter Bariton wie der von Andrè Schuen zum Winterreisen-Müller gehört, vielleicht weniger zu dem der Schönen Müllerin, dass er des Booklets mit den Texten nicht bedarf, denn die Diktion ist eine vorzügliche, dass nicht Zorn, sondern Resignation die Grundstimmung ist und viel Zärtlichkeit für den Gefährten „Mondenschatten“ und besonders im Pianissimo der letzten Strophe in ihr mitschwingt. Schuen ist kein vokal anämischer Sänger, sondern kostet alle agogischen Möglichkeiten aus, so in der Wetterfahne und im Nachahmen der fallenden Tropfen in Gefrorne Tränen. In Erstarrung klingt die letzte Strophe wie mit entfärbter Stimme gesungen, der Lindenbaum vermeidet alles Volksliedhafte, endet in sanftem Piano. Wo es Text und Musik nahelegen, arbeitet Schuen mit Kontrasten, so in Wasserflut, der Bariton behält auch im Forte des Auf dem Flusse seine klaren Konturen. Wenn wie in Rückblick die Interpretation sich von einzelnen Worten wie „stille stehn“ leiten lässt, dann sprengt das nicht den Rahmen der Gesamtinterpretation. Dann flackert das Irrlicht auch im Klavier, braust das Meer in der Stimme auf oder schleppen sich in Rast beide dahin. Besonders schön gelungen ist Frühlingstraum, in dem zärtliche Verhaltenheit und kalte Härte einander gegenüber stehen, „der Blumen im Winter sah“ wie ein Hauch wirkt, die letzte Strophe eine hoch ätherische Vision ist. Ein raffiniertes Spiel mit den Stimmfarben kann man in Die Post genießen, wie ein grauer Schleier legt es sich über den Greisen Kopf. Immer wieder kann man die Ausgewogenheit zwischen Beibehaltung der Grundstimmung und einer raffinierten Detailverliebtheit bewundern, wozu auch die Veränderungen in den Stimmfarben mit der der jeweiligen Tonart gehören. Nicht nach Auf-, sondern nach Abbruch klingt der Leiermann, nach Verlöschen und keine Hoffnung lassend. Andrè Schuen lotet alle Möglichkeiten des Liedgesangs aus, ohne sie zu sprengen, seine Interpretation wirkt so frisch und unmittelbar und zugleich so reif, dass man sie nicht als eine noch weitere nach bereits so vielen anderen ansieht. Das Gelingen ist zu einem guten Teil auch dem langjährigen Begleiter Daniel Heide zu verdanken.

Ingrid Wanja, 20. Mai 2024


Franz Schubert: Die Winterreise

Andrè Schuen, Gesang
Daniel Heide, Klavier

DG 486 1288