Vorwort
Die Idee, eine vergleichende Diskographie aller Ring-DVDs zu schreiben, hatte schon vor längerer Zeit mein Freund Peter Bilsing, mit dem ich jahrzehntelang den „Opernfreund“ herausgegeben hatte. Als Pensionär, so dachte ich, würde ich dann vielleicht einmal die Zeit dazu haben. Aber ich habe die gewaltige Arbeit bei weitem unterschätzt. Selbst bei der Beschränkung nur auf noch im Handel befindliche Aufnahmen kamen doch mindesten 19 Produktionen in Frage. Das sind ja über 130 Silberscheiben! Ich erschrak gar nicht wenig. Nun habe ich mich zwar seit meiner Gymnasialzeit mit Wagner intensiv beschäftigt. Ja, ich träumte damals sogar, Wagnertenor zu werden und habe meine Gesangslehrerin genötigt, mit mir einiges einzustudieren – was ja in dem Alter der glatte Wahnsinn war. Ein echter Vorteil für meine Ring-Besprechung ist aber, dass ich viele der Produktionen schon von der Bühne her kannte. Also begann ich.
Aber zunächst einmal fünf Gedanken vorneweg:
1. Beim Regietheater finde ich die meist hervorragende Personenregie großartig. Gar nicht begeistert bin ich dagegen, wenn die Damen und Herren Regisseure meinen, das Werk total verändern zu müssen, am liebsten auch noch die Musik. Die großen Komponisten, insbesondere Wagner, haben aber Text, Handlung und Musik als Einheit gesehen. Verändere ich da etwas, stimmt die ganze Balance nicht mehr.
2. Problematisch ist für mich auch, wenn alles ins Proll- und Schmuddelmilieu verlegt wird. Bei aller verständlichen Sozialkritik: Ein Wotan im Unterhemd in der Wohnküche ist mit seinen gewaltigen Gesängen und dem überhöhtem Pathos doch eher eine unpassende Parodie (siehe Nestroy) als eine entlarvende Großtat der Regie. Brecht und Adorno zum Trotz!
3. Auch die Zeitebenen zu missachten, finde ich problematisch, denn ein Siegfried im T-Shirt mit dauernd herumgeschlepptem Schwert ist ebenso albern wie anachronistisch. Was nicht heißen soll, dass ich Rauschebärte und Stierhelme sehen will. Um Wotans Wille, nein! Das habe ich ja in meinen Karikaturen schon oft genug verspottet.
4. Angeblich begreift das dumme Publikum die Handlung besser, wenn sie in die Gegenwart verlegt wird. Das geht dann so z.B. im 1. Akt Walküre: Da hält ein Proll in seiner Wohnküche seit Jahren eine Frau gefangen, die ihm „Schächer“ beschafften. Heute ja üblich, oder? Als dann ein Besucher kommt, droht er, ihn am nächsten Morgen umzubringen. Statt nun den Schutz der Polizei zu suchen, jammert der Besucher in der Wohnküche, dass ihm sein Vater ein Schwert verheißen habe. Kommt ja in unserer modernen Zeit oft vor, dass Väter ihren Söhnen ein Schwert in der Esche Stamm vererben. Und er zieht dann tatsächlich eins aus der Wand heraus! Warum nicht? Die stecken ja in Wohnküchenwänden häufig herum? Und mit so einer Umstellung bringt man die Handlung näher ans Publikum?
Oder im 3. Akt: Wenn der Gott Wotan den Ungehorsam seiner geliebten Tochter bestrafen muss, weil sonst die Weltordnung zusammenbräche. Das ist doch leicht verständlich, da gibt’s in der Bibel ähnliche Stories. Verlegt man alles in die Gegenwart, wäre ja noch leicht zu verstehen, dass ein genervter Proll-Vater seine aufmüpfige Tochter am liebsten auf den Mond schießen würde. Wenn er sie aber stattdessen hinter einen Feuerwall verdammt, nachdem er ihr vorher noch lange singend die Gottheit abgeküsst hat, dann wäre das doch eher ein Fall für die Psychiatrie! Und wenn er dann gar noch jeden Retter mit seines Speeres Spitze bedroht, würde das Mobile Einsatzkommando der Polizei mit einer Hundertschaft anrollen. Und das soll leichter zu verstehen sein? Glaubt das wirklich jemand?
5. Oft wird auch als Begründung für Umänderungen angeführt, dass man die Jugend so erreichen könnte. Aus vielen Opernbesuchen mit Schülern weiß ich: Eine Oper erstmalig in sich aufzunehmen, ist für sie schon schwer genug. Verfremdungen verwirren da nur noch mehr. Dann ist schnell und leider dauerhaft das Urteil über das Medium Oper gefällt: „So ein Krampf!“
Keine Sorge, dass meine Prinzipien mir vielleicht den Zugang zu neuen Regie-Ideen verbauen könnten. Denn ich bin kein Dogmatiker, sondern ein seit 65 Jahren immer wieder zu begeisternder Opernfan. Und wenn’s gut gemacht ist, springe ich jederzeit gerne über meinen Schatten. Zum Beispiel in Weimar, Lübeck, Sofia, usw.! Nur werkzersetzender Dilettantismus ärgert mich halt!
Also gut, los geht’s.
1.) Weimar: Nationaltheater, St. Clair / Schultz, 2008, Arthaus Musik
O Richard! Wärst Du doch in Weimar geblieben!
1856 verhandelte Richard Wagner mit dem Weimarer Herzog um die Uraufführung seines „Rings“. Aber Hoheit geruhten, die Chance nicht begreifen zu wollen, und so kam das Festspielhaus zwanzig Jahre später nach Bayreuth. Wenn ich mir nun die häufigen Bayreuther Regie-Desaster anschaue und mit dem 2007-09 in Weimar entstandenen Ring vergleiche, drängt sich mir diese Überschrift schon auf. Denn diese Inszenierung hat wirklich was. Zunächst eine großartige Personenregie, kein Wunder, kommt doch der Regisseur Michael Schultz vom Schauspiel. Aber im Gegensatz zu vielen Kollegen scheint er etwas von der Oper zu verstehen. Seine Aktionen gehen meistens mit der Musik konform. Sie sind spannend, packend und bringen oft ganz neue, interessante Aspekte. Allerdings gebe ich zu, dass ich auch so manche Kröte schlucken musste. Ich finde es ja nach wie vor falsch, die Story in die Gegenwart zu verlegen, ist sie doch zeitlos. Außerdem sind Götter und Helden, modern gekleidet, aber mit Schwert und Speer versehen, nicht nur völlig anachronistisch, sondern auch recht albern und sehen nach Kinderfasching aus. Ich weiß, damit soll ja Zeitlosigkeit angedeutet werden. Doch das ist mir zu theoretisch. Mich stört es auch, wenn die Handlung im „Proll“-Milieu spielt. Weder passt es zur gewaltigen Musik, noch zum verbalen Pathos, schon gar nicht zum philosophischen Background von globaler Bedeutung. Aber wenigstens spielen die großen Szenen in Weimar in großzügigen, abstrakten Räumen des klugen Dirk Becker. Deshalb fiel es mir nicht so schwer, diese Produktion dennoch für eine der packendsten und interessantesten zu halten. Was sich da so abspielt, ist verblüffend einfallsreich und oft auch selbstironisch. So, wenn die wirklich riesigen Riesen nicht durch die Türe hereinkommen, sondern den Göttern einfach das Dach über den Köpfen wegheben! Oder in der Götterdämmerung, da gibt es etwas Einmaliges: Der Regisseur lässt Grane höchstpersönlich auftreten! Damit erweist er sich kenntnisreicher als sein berühmter Bayreuther Kollege, der gefragt haben soll: „Ich lese im Reclam-Heft hier von Grane, und was singt der?“ Wenn nicht wahr, so doch glaubhaft erfunden. Aber Grane singt natürlich auch hier nicht, es ist auch kein ausrangierter lahmer Ackergaul, wie zu Slezaks Zeiten, oder ein ausgestopftes Pferdchen auf Rädern, sondern, man staune: eine zierliche, langhaarige Frau. Ich wunderte mich schon, wen sie darstellen sollte, die Siegfried und Brünnhilde als getreuer Schatten folgt, bis ich in der Besetzungsliste endlich „Grane“ las. Vom bösen Hagen wird sie später brutal verletzt und geschändet, und er schneidet ihre lange weiße Mähne ab. Die Granedarstellerin Erika Krämer lässt diese grauenvolle, auch Gänsehaut erzeugende Szene geduldig über sich ergehen. Im Siegfried-Schlussduett, da wird die intensive Darstellung witzig ironisiert, indem alles auf und unter der schon großbürgerlich gedeckten Hochzeitstafel spielt, auf der Brautvater und Opa Wotan schon gerührt bereit steht. Gekrönt wird der Schluss durch ein alle Bedenken hinwegfegendes, gewaltiges Hohes C der Catherine Foster, als grandioser Brünnhilde, mit überwältigender, fast schon Birgit-Nilsson-Stimme. Herrlich! Der Siegfried Johnny van Halls ist ein spielfreudiger und intensiver Darsteller, leider als dickbäuchiger Spießer in Hosenträgern kostümiert. Nebenbei beweist er, dass man diese Monsterpartie auch sehr schön lyrisch singen kann, wenn denn der Dirigent kein unsensibler Krachmacher ist. Und das ist Carl St. Clair, ein Schüler Bernsteins, bestimmt nicht, vielmehrt breitet er einen durchsichtigen und spannenden Klangteppich aus. So auch im Waldweben mit dem allerliebsten Fräulein Waldvogel. Da kommt noch recht romantische Stimmung auf, als ich nach der Drachenszene schon alles verloren glaubte. Denn Fafner ist eine riesige, dickwabbelige, nackte Frau. In Lübeck hat man eine ähnliche Idee von Fafner als fettem Geldsack. Mag ja theoretisch gut überlegt und witzig gemeint sein, aber der Kampf mit dem Ungeheuer setzt halt echte und spürbare Gefahr voraus, wenn sie packend sein soll. Der 1. Akt Siegfried spielt wieder einmal in einer Wohnküche mit Kühltruhe, so klein klein ist das alles. Der Mime von Frieder Aurich ist voll Spielwitz und beweglicher Eloquenz. Verblüffend ist übrigens der Beginn von Rheingold und Walküre. Da gibt es nämlich erst einmal drei Kinder, die die ganze Geschichte pantomimisch erzählen und sich eins dazu kichern. Es ist angeblich eine Urtextvariante Wagners für „Siegfrieds Tod“ aus dem Jahre 1848. Wagner fand die Idee wohl selber nicht so toll, sonst hätte er sie ja beibehalten. Zwar recht wirkungsvoll, aber leider ganz falsch ist, dass Siegmund Nothung nicht aus der Esche zieht, sondern aus Wotans Händen. Hat doch Braut und Schwester Sieglinde eben so schön erzählt, wie der geheimnisvolle Greis einstens das Schwert in der Esche Stamm versenkte. Hat sie da nur phantasiert? Kirsten Blanck gibt die Siegmundschwester übrigens mit viel Charme und dennoch spannender Kontur. Erin Caves singt Siegmund geradezu sensationell schön, nachdem er schon ein sehr prägnanter Loge war. Der vielseitige Renatus Mészár ist nicht nur als Zwillingsvater ein großstimmiger Wotan, sondern gibt auch einen abgrundtief bösen Hagen und den verliebten Fasolt. Eine Wandlungsfähigkeit, die sicher einmalig ist, noch dazu auf diesem Niveau. Bewundernswert. Der Rheingoldwotan Mario Hoff ist schauspielerisch der prägnanteste der drei Wotane, er liefert auch ein Kabinettstückchen als Gunther mit vielen neuen Facetten. Einen großartig auftrumpfenden Bass lässt Hidekazu Tsumaya als Fafner und Hunding hören. Norbert Schmittberg schlägt sich mit metallischem Tenor in der Partie des gedopten Siegfried in der Götterdämmerung nicht anders als seine Topkollegen sonstwo. Insgesamt also eine sehr interessante Ensembleleistung, die wieder einmal beweist, dass auch nicht so große Häuser den Ring wohl eindrucksvoll packen, wenn nur der Dirigent nicht alles mit Lautstärke zudröhnt, wie heute leider so oft üblich.
In Wagners Partituren findet man „fff“ sehr, sehr selten, viel öfter dagegen „ppp“. Natürlich lesen das auch die Dirigenten, aber viele verwechseln offenbar Lautstärke mit Brillanz und Spannung. Schade! Wolfgang Windgassen sagte, dass er mit seiner Stimme keine Wagnerkarriere mehr machen hätte können, weil die Musik überall viel zu laut geworden ist.
Fazit: Nachdem ich einige Regiekröten geschluckt und verdaut hatte, fand ich die Produktion doch äußerst interessant und spannend, und das will bei meinen Vorbehalten schon allerhand bedeuten.
2.) Lübeck: Brogli-Sacher/Pilavachi, 2013, Musicaphon/Kassel
Wagners Götter und Helden in unserem Alltag – ob das gut geht? Ja, und wie!
Wenn im Rheingold die Erda erscheint, trippelt eine kleine Brünnhilde hinter ihr her, mit Schildchen und kleinem Speer, allerliebst anzusehen, und Wotan kniet liebevoll neben seinem Töchterchen nieder und umarmt das Kind zärtlich. Eine ergreifende Szene, die noch eine menschliche Seite vom habgierigen Göttervater zeigt. Auch wenn sie chronologisch falsch ist, denn Wotan hatte Erda ja vorher noch nie getroffen! Aber mein kitschiges Gemüt freute sich trotzdem. Und solche menschlichen Stellen gibt es im Lübecker Ring immer wieder: die Götter verkleinert auf menschliches Maß. So richtig befriedigte mich ja die Verfrachtung ins Kleimenschliche hinein nie. In Wagners Musik ist halt das Mythisch-Mystische, das ganz Große in jeder Note. Das geht weit übers Klein-Klein des Menschlichen hinaus. Und dazu passt Wagners gewaltige Musik nicht mehr, ist zu gewaltig. Aber hier wird es passend gemacht. Denn Anthony Pilavachi gelang so eine der interessantesten Ring-Inszenierungen, die ich in 60 Jahren (!) erlebt habe. Zwar gibt es natürlich auch hier viele Ideen, die albern sind, doch selten so ärgerlich wie sonst im modernen Regietheater leider öfters anzutreffen: so der unvermeidliche Rollstuhl, in dem dieses Mal die alte Erda sitzt, oder das erbärmliche Feuerchen, durch das Siegfried zu seiner Brünnhilde muss, und wegen dem kein „Feiger Brünnhildens Fels meiden“ müsste! Und gar erst das süße Jungmädchenzimmer, in dem Siegfried die Schlafende im Bettchen findet, und das, obwohl sie ja in der Walküre in einem Flugzeughangar (!) entschlief. Diese kindliche Umgebung als Schauplatz für eines der gewaltigsten Liebesduette der ganzen Opernwelt! Das persifliert doch die Musik! Es gibt aber auch viele interessante Lösungen: so der Loge als smarter Unternehmensberater mit Aktenköfferchen, er gibt den Scheck von Wotan an die Rheintöchter weiter, die ratlos sind, was sie damit sollen; oder Freia, die nicht mit nach Walhall will, verständlich, verraten und verkauft wie sie von ihrer Sippe wurde. Großartig im 2. Akt Walküre der Zwist Wotan-Fricka, das ist Schauspielkunst vom Feinsten und genau zur Musik inszeniert! Und die Götterdämmerung bringt dann überraschend auch noch ganz großes Wagnertheater, aber auch dabei witzige Einlagen: so wenn nach dem Schlussgesang Bünnhildes die Walhalla in Bayern projiziert wird, vor der auf weißen Sofa der wie schlafwandelnde Siegfried und ein Schar kleiner Walküren, eine Sieglinde und Siegmund sitzen. Der alle überlebende Alberich zieht aber dann den Vorhang zu. Die andere große Überraschung ist die kompetente musikalische Lösung mit einem so kleinen Orchester. War das überhaupt wenigstens die Lessingbearbeitung? Der Dirigent Roman Brogli-Sacher begleitete sensibel rücksichtsvoll aber auch ganz gewaltig auftrumpfend, wo es nötig war. Große Begeisterung für die Sänger: Marion Amman, zu Recht „Sängerin des Jahres 2009“ als geradezu mädchenhafte bezaubernd und erschütternde Sieglinde, wunderschön und lyrisch gesungen, aber bei den entscheidenden Stellen hat sie eine Attacke, die ich ihr nie zugetraute hätte; der schönstimmige Wotan von Stefan Heidemann; Veronika Waldner die singschauspielerisch geradezu überwältigende Fricka; Jung-Siegfried der erfahrene Kämpe Jürgen Müller, jugendlich im Spiel, aber die Stimme schon etwas abgenützt im Vergleich zu Meiningen, wo ich ihn das erste Mal hörte; der andere Siegfried, Richard Decker, mit echtem Heldentenor auftrumpfend, darstellerisch aber zurückhaltender; ebenso Rebecca Teem, die sich als Brünnhilde ständig steigert, singt durchschlagskräftig mit guter Diktion, wenn auch bisweilen etwas scharf in den Höhen; eine wahre Entdeckung der Alberich Antonio Yangs. Gut, dass es diese auch akustisch und von der Bildregie so gelungenen DVDs gibt. Schade aber, dass nur die jeweiligen Akte und nicht einzelne Szenen direkt anwählbar sind!
Fazit: Eine sehr sympathische Produktion mit ganz neuen, auch humorvollen Aspekten! Und eine fast unglaubliche Leistung für ein so kleines Theater, das so richtig Flagge zeigte!
3.) Bayreuth: Barenboim / Kupfer, 1992, Warner Classic
Musik und Bühne: „Goldmedaille“, Kupfers Personenregie: nur „Kupfer“!
Im 3. Akt Götterdämmerung zerbricht der gebrochene Wotan seinen Speer und wirft ihn zum toten Siegfried in den eben entstandenen Krater. Das ist eine der Gesten, die einem lange im Gedächtnis bleiben. Und doch ist sie falsch: denn Wotans Speer hat Siegfried ja schon im 2. Akt des vorausgehenden Dramas zerschmettert! Auch das kleine Waldvögelein, das Wotan aus einer Tasche zaubert, lieb streichelt und dann dem unsicheren Siegfried als Berater zusendet, ist so ein emotionaler Moment, der in der Seele haftet. Aber auch das ist aus der Logik des Werkes heraus einfach falsch: denn der unwissende Knabe muss seinen Weg ohne Hilfe Wotans und seines Vögelchens finden, ist der Gott doch durch Verträge zur Neutralität verpflichtet! Hatte Harry Kupfer das Textbuch vielleicht gar nicht gelesen? Denn seine Regie ist voll von zwar ergreifenden Momenten, die aber irgendwie nicht richtig sind. So auch seine Klettermanie: dauernd muss jemand Leitern empor- und gleich wieder herabsteigen; zum Beispiel die erschöpfte Waltraude auf den Walkürenfelsen, oder Mime und Siegfried auf einer alten kaputten Lok. Das ist nicht nur für die bedauernswerten Sänger atemraubend, sondern auch für den Zuschauer ermüdend. Und noch dazu, was das Schlimmste ist, dramaturgisch ohne jede Aussage! Auch Brünnhilde muss für ihren Eid auf den Speer erst umständlich auf eine Leiter steigen, was der Szene die packende Spontanität raubt. Und vorher war der Alberich der Klettermaxe. Joachim Kaiser witzelte schon von einer „Kletterdämmerung“. Doch bietet Kupfer auch ganz und gar stimmige Lösungen, zum Beispiel wie Gunthers Mannen Brünnhilde in einem Netz, wie eine Jagdbeute, herbeischleppen. Das ist von tief erschütternder Wucht. Oder ihr Frösteln bei der Todverkündung, die Wildheit des Walkürenrittes und der allerdings optisch lasergekühlte Feuerzauber. Der geniale Bühnenbildner Schavernoch bietet ihm dazu aber auch die großen, unbegrenzten Räume, die zur gewaltigen Musik ideal passen. Und die das große Geschehen nicht albern wirkungslos verkleinern auf Spießerwohnungen und Müllhalden. Vor allem die großartige Beleuchtung und die Laserkunst schaffen transzendent große Raumwunder und liefern zum Beispiel zur Schlussszene atemberaubende Stimmungen. Deshalb zählt diese Aufnahme auch zu meinen großen Favoriten. Und wegen der einmaligen Sängerleistungen. Allen voran Siegfried Jerusalem, der nicht vor allem auch darstellerisch einfach großartig ist und noch dazu in bester Stimmverfassung. Aber, was macht der Herr Regisseur mit ihm? Er lässt ihn an einer alten Lok dauernd rauf und runter klettern, bis sogar diesem Helden die Puste ausgeht. Man sollte nicht glauben, dass da niemand Paroli geboten hat! Dann der seit Hotter stimmmmächtigste Wotan / Wanderer von John Tomlinson, in der Darstellung ein moderner Typ, eindrucksvoll charismatisch. Matthias Hölle beeindruckt mit seinem schönen Bass als Fasold und Hunding. Aus Mime macht Kupfer aber eine Art traurige Woody-Allen-Karikatur, eher ein armes Schwein als ein bösartiger Zwerg. Der wendige Graham Clark schafft es trotzdem, überzeugend zu sein. Die sehr dramatische Anna Evans hat als Brünnhilde wunderbare Spitzentöne zu bieten, auch ohne eine zweite Birgit Nilsson zu sein, und ist von ergreifender Darstellungswucht. Der starke Philip Kang orgelt als Hagen zwar nicht in abgründigen Bassestiefen wie der alte Frick, ist aber dafür die Inkarnation der bösen Macht. Nadine Secunde und Poul Elming schaffen eindrucksvolle Rollenporträts als das Wälsungen-Zwillingspaar. Wenn man noch dazu bedenkt, was Kupfer von den Sängern so nebenbei alles an körperlichem Dauereinsatz verlangt – es wird ja fortwährend gewälzt, gerollt, gerannt, gelegen, geklettert, gerutscht, gekniet – kann man sich leicht vorstellen, wie sie von ihm bis an die Grenze belastet wurden, auch an die Grenze des vom Gesang her noch Möglichen. Dass Barenboim dem nicht Einhalt bieten konnte, beweist wieder einmal, wie die Regie heute überbewertet ist. Sein eher romantisch-gefühlvolles Dirigieren mit lyrischen Details ist mir lieber als der von der Kritik vielgelobte, trockene Boulez mit seiner nüchternen Analyse. Emotionales ist ja heute eher als Kitsch verpönt, und das ausgerechnet beim guten alten Wagner!
Fazit: Eine von mir dennoch sehr geschätzte Aufnahme wegen der zu Wagners gewaltiger Musik passenden, erhaben Räume und der ganz hervorragenden Sänger. Musikalisch allererste Sahne, grandiose Bühnengestaltung, ein sehr kluges Regiekonzept, aber eine Personenführung, die unter schwerer, fortgeschrittener Klettermanie sehr leidet.
4.) De Nederlandse Opera Amsterdam: Haenchen / Pierre Audi, 1999/2013, Opus Arte/Naxos
Ein Erlebnis: Wagners Bühnenzauber ernst genommen und doch zeitgemäß!
Ohne den Wagnerschen Mythos muss eigentlich jeder „Ring“ blass und banal bleiben! Das wurde im modernen Regietheater leider ignoriert. Zur gewaltigen Musik und zu dem ebenso gewaltigen philosophischen Hintergrund des Geschehens gehören halt auch gewaltige Bilder. Die passen dann auch besser, als wenn Wotan im Unterhemd in der Wohnküche sitzt. Der erfahrene Pierre Audi erkannte das und vollbrachte das Wunder: Grandiose Bildlandschaften, fesselnde Personenregie und immer nahe am Publikum. Die phantasievollen Beleuchtungseffekte (Wolfgang Goebbel und Cor van den Brink) schaffen endlich wieder einen Bühnenzauber, wie er Wagner wohl vorschwebte. So erhält der großartige Hartmut Haenchen für seinen spannungsgeladenen und machtvollen Wagnersound auch die effektvollere Umgebung, zumal das Orchester mitten in einer riesigen Scheibe auf der Bühne sitzt, immer mitten im Geschehen. Zusammen mit der überaus packenden Regie entsteht so phantasievolles und spannungsgeladenes Wagner-Musiktheater, wie ich es seit meinen Anfängerjahren als Opernbegeisterter kaum mehr erleben durfte. Die gewaltigen, sich überkreuzenden bedrohlichen Balken, vor allem in der Walküre, erinnerten mich sogar an Wieland Wagners Bayreuther Experimente in meinem ersten Ring. Allerdings darf ich hier nicht an die großartigen Sänger von damals denken! Allein die gewaltigen Bässe als Wotan oder Wanderer, wie Adam oder gar Hotter. Mit deren Stimmgewalt, die ich noch von Live-Auftritten in Erinnerung habe, kann der darstellerisch sehr eindrucksvolle Caspar Bröcheler natürlich nicht mithalten, denn wie allen Bariton-Wanderern fehlt die Durchschlagskraft in den tieferen Lagen. Und Jeannine Altmeyer als Brünnhilde fällt nicht nur im Vergleich mit einer Astrid Varnay oder Birgit Nilsson ab. Mir scheint, der Wechsel zum hochdramatischen Fach ist ihr gar nicht bekommen. Denn als Elisabeth, zum Beispiel, war sie einst überwältigend, und ich erinnere mich, dass sie bei ihren Auftritten in München als Sensation gefeiert wurde. Heinz Kruse hat erst spät den Sprung zum Heldentenor gewagt. Vielleicht wegen seiner „Größe“, war er doch sogar noch kleiner als der Zwerg Mime. In der Rolle hätte er sicher geglänzt, wie einst der unvergessene Gerhard Unger, der den Sprung zum Helden leider nie wagte, aber so manchem Siegfried stimmlich das Fürchten doch noch gelehrt hat. Den jugendlichen Helden konnte man ihm aber optisch nur schwer abnehmen. Noch weniger Kruse, zumal er schon fast 60 war! Aber stimmlich war alles da, und wie: eine machtvolle Stimme, die auch Pianokultur hatte, Durchschlagskraft und gute Wortverständlichkeit. Graham Clark, als Mime vom Dienst fast überall bekannt, ist darstellerisch und gesanglich großartig wie immer, Henk Smit sein fast kongenialer Bruder Alberich. John Keyes und Nadine Secunde als Zwillingspaar gefielen mir ausnehmend gut, zumal sie auch im Spiel sehr schön zusammenpassten. Ein Wiedersehen mit Reinhilde Runkel freute mich besonders. Aus ihren Nürnberger Jahren ist sie mir noch bestens bekannt. Sie ist auch mit fast 60 Jahren, inzwischen sehr schlank geworden, noch immer eine sehr gut klingende und hier äußerst elegante Wala. Sie alle überragt aber Kurt Rydl als Hunding und Hagen, eine Inkarnation des Bösen mit sonorer Bassgewalt! Er braucht auch den Vergleich mit den großen Basslegenden nicht zu scheuen. Ein Ereignis!
Fazit: Eine auch musikalisch überwältigend großartige Inszenierung mit der heutigen Zeit angepassten mythisch-mystischen Elementen, ganz im Sinne von Wagner. Wenn alle Sänger auch immer dieses Level erreichten, dann wäre es vor Opernglück kaum mehr auszuhalten.
Peter Klier, 24. Oktober 2023
Weiter geht es hier mit Teil 2.
Übersicht:
Teil 1: Weimar, Lübeck, Bayreuth 1992, Amsterdam
Teil 2: Sofia, Kopenhagen, Bayreuth 1976/80, New York 1988/90
Teil 3: Valencia, Mailand, Stuttgart, Frankfurt, München 1987
Teil 4: Barcelona, Buenos Aires, Mannheim, Deutsche Oper Berlin 2022, New York 2011, Marionettentheater Salzburg