Berlin: „Arabella“, Richard Strauss

Womit beginnt die Entstellung, um nicht zu sagen: Vergewaltigung, eines Kunstwerks, in diesem Fall einer Oper? Im schlimmsten Fall bereits mit der Inhaltsangabe im Programmheft, falls sie nicht den Sachverhalt, sondern die Meinung der Regie zum Stück, also bereits die Interpretation zum Besten gibt. Mit ihr ist dem Opernhausbesucher von vornherein die Möglichkeit genommen, ein sachgerechtes Urteil über den Opernabend zu fällen, zumindest dem Kunstliebhaber, der das Werk nicht kennt und der nie eine Inszenierung zu Gesicht bekam, die die Intentionen von Libretto und Musik respektierte. Inzwischen ist bereits eine Generation von Opernhausbesuchern herangewachsen, die keine Vergleichsmöglichkeiten mehr hat und für die es selbstverständlich ist, dass alle Opern irgendwie im Hier und Heute und in scheußlichen Klamotten spielen. Auch die letzte auf der Bühne als solche erkennbare Arabella von Hofmannsthal/Strauss ist lange her, die absolut letzte in der Regie von Alexander von Pfeil sah sich in einer amerikanischen Tiefgarage voller Autowracks und mit einem Fiat 500 als Behausung für Familie Waldner angesiedelt und verschwand schnell aus dem Repertoire. 

(C) Thomas Aurin / Deutsche Oper Berlin

Zurück zur Inhaltsangabe im Programmbuch, die brav die 1860er Jahre als Spielzeit angibt, allerdings verschweigt, dass bereits der zweite Akt auf der Bühne der DOB in der Nazizeit spielt, schließlich war die Uraufführung 1933 in Dresden, und der dritte und letzte Akt sieht Mandryka und Arabella im Jahr 2023 – der wievielte Hochzeitstag mag da gefeiert werden?

Natürlich ist die Haltung Arabellas nicht nur für Feministinnen ein Graus, und so darf sie nicht bleiben, wer und wie sie ist, sondern ihr wird in der Inhaltsangabe unterstellt: „Arabella emanzipiert sich von ihrer Rolle als untertänige Frau“, denn schließlich „entpuppt sich der vermeintliche Traumprinz Mandryka als unsicherer Choleriker“.  Da muss natürlich „das Verhältnis zwischen Arabella und Mandryka … noch einmal neu verhandelt werden“. Arabellas die Oper beschließendes „Nimm mich, wie ich bin“ spricht allerdings eine ganz andere Sprache, die von einer ahistorischen Sichtweise natürlich nicht toleriert werden kann.

Diversität ist gerade das große Thema, und da kann die Figur der Zdenka eine Menge hergeben, wenn man sie nur genügend entstellt, sie im Interview „der Zdenka“ nennt und in der Eile übersieht, dass deren Herzenswunsch ist, eine Frau ganz wie Arabella sein zu dürfen. Aber da hilft ein „Man muss als Regisseur nicht alles mittragen, was eine Figur im Stück sagt“, meint Tobias Kratzer, und flugs wird aus dem „reaktionären Frauenbild“ von Hofmannsthal und Strauss eine Arabella, die das berüchtigte „Gebieter“-Zitat zwar von sich gibt, aber damit  eigentlich gegen ihr Schicksal protestiert. Erstaunlich ist zudem, dass die Regie von „einem Verfall der bürgerlichen Werte“ spricht, wo doch das Personal fast durchweg aus dem österreichischen Adel stammt, es von Grafen nur so wimmelt. Und warum die Aufregung? Weil es sich bei Arabella nicht wie bei mancher italienischen Oper um wunderbare Musik zu einem minderwertigen Libretto handelt, sondern um ein in gemeinsamem Ringen zweier Künstler um das bestmögliche, d.h. glaubwürdigste Ergebnis entstandenes Meisterwerk. 

(C) Thomas Aurin / Deutsche Oper Berlin

Soviel zum Interpretationsansatz der Regie. Die Realität am Premierenabend war wie so oft eine etwas andere. Den gesamten ersten Akt hindurch durfte man sich an einer zweigeteilten, geradezu naturalistischen Bühne voller liebevoller Details für nicht nur Salon, sondern auch Schlafzimmer und sogar Rezeption eines k. und k. Hotels in Wien erfreuen (Bühne Rainer Sellmaier), an phantasievollen historischen  Kostümen (Clara Luise Hertel) und einer Personenführung, die von Hofmannsthal selbst hätte stammen können. Als eher störend als erhellend erwies sich allerdings das Nebeneinader von Realbühne und ins Immense im Videobild vergrößertem Detail, mal ein Gesicht, mal aber auch ein Paar Stiefel und vieles andere mehr darstellend. Im zweiten Akt dann gab es vor den Eingängen zu einem Ballsaal einen raschen Kostümwechsel von der Belle Epoque über die Charleston- zur Petticoat- und schließlich in die heutige Jeans-Zeit, währen SA-Männer prügelnd über die Bühne zogen, Schwule, Masochisten (Adelaide führte einen solchen an der Hundeleine und mochte sich nur ungern von ihm trennen) ihrer Neigung nachgingen und sogar die Fiakermilli sich recht unentschieden in Bezug auf das eindeutige Bekenntnis zu einem Geschlecht zeigte. Im dritten Akt, in der Jetztzeit endgültig angekommen, zeigte sich die Bühne bis auf ein Bänklein ratzekahl, dafür trat „das Volk“ auf den Plan und setzte sich, wenn nicht klassen-, so doch geschlechterkämpferisch für Zdenka ein. Emanzipiert war nun trotz des nicht so ganz entsprechenden Textes auch Arabella, indem sie ihrem Verlobten das Glas Wasser nicht einfach reichte, sondern ihn ordentlich nass spritzte. Wenn das kein Happy End ist, das selbst Feministinnen zufrieden stellen kann! Und auch wer kein Freund sogenannter moderner Regie ist, kann mit der Produktion leben, denn immerhin ist das, was ihm nicht gefällt, nicht Ausdruck eines inszenatorischen Unvermögens, sondern einer nachvollziehbaren Überlegung und Entscheidung. Das Vorspiel zum dritten Akt allerdings sollte nicht dazu dienen, die Bettszene zwischen Zdenka und Matteo als Film überlebensgroß dem Publikum zuzumuten, nicht aus Gründen der Prüderie, sondern der Ästhetik. Und warum bereits im ersten Akt drei Kamerafrauen sich auf der Bühne tummeln, ist kaum nachvollziehbar, die in Großaufnahme gezeigten Gesichter sind eher desillusionierend als erhellend.

Ausgerechnet die beiden Protagonisten waren am Premierenabend indisponiert abwesend oder als indisponiert angesagt. Rachel Willis-Sorensen musste auf ihre Mitwirkung bei der Premiere verzichten, für sie sprang Sara Jakubiak ein, bereits als Francesca da Rimini und Heliane in den jeweiligen Premieren und nun wieder bei den Wiederaufnahmen beschäftigt, und schlug sich darstellerisch, als hätte sie alle Proben mitgemacht, dabei vokal beachtlich, nur selten ein Aufblühen der Stimme in der Höhe vermissen lassend. Einen lieblichen lyrischen Sopran und ein anrührendes Spiel konnte Elena Tsallagova für die Zdenka einsetzen.  Als indisponiert angesagt war der Mandryka von Russell Braun, der immerhin nicht nur ahnen ließ, dass er über ein sonores, viril klingendes Stimmmaterial verfügt. Den schöneren von den beiden Tenören hatte Thomas Blondelle als Elemer, etwas verquollen klang der von Robert Watson als Matteo. Alle Schattierungen ihrer zweifelhaften Existenzen loteten Albert Pesendorfer als Waldner und Doris Soffel als Adelaide aus und zeigten sich zudem vokal als gar nicht altersmilde, geschweige denn –müde. Unangestrengt in die höchsten Höhen schraubte sich die Fiakermilli von Hye-Young Moon hinauf, ihr Auftritt hätte allerdings etwas spektakulärer gestaltet werden können.  Von seiner besten Seite zeigte sich das Orchester der Deutschen Oper Berlin unter Sir Donald Runnicles und stellte der zunehmenden optischen Ödnis einen gleichbleibend  strahlenden, dabei fein ausziselierten Strauss-Klang entgegen.

(C) Thomas Aurin / Deutsche Oper Berlin

Um die Premiere von Arabella herum rankte sich eine Reihe von weiteren Strauss-Aufführungen, und zwar von Salome und Elektra, so dass man fast von einem kleinen Strauss-Festival sprechen kann. Am 15. März gab es eine hochkompetent besetzte Elektra in der noch immer gültigen Regie von Kirsten Harms im archaischen Bühnenbild von Bernd Damovsky. Einspringerdirigent Alexander Soddy führte das Orchester der Deutschen Oper zu einer wahren Glanzleistung, ohne die Bedürfnisse der Sänger zu vernachlässigen. In der 25. Aufführung seit der Premiere im November 2007 schien es eine Veränderung mit dem Einsatz weißgekleideter Tänzerinnen in der Schlussszene zu geben. Eine nie schrille und dabei doch hochpräsente, nimmermüde Elektra war Catherine Foster, einen frischen, stahlenden Sopran ließ Flurina Stucki für die Chrysothemis leuchten, etwas verschenkt wird der Auftritt der Klytämnestra durch seine Aufspaltung auf zwei Spielebenen, trotzdem konnte Karita Mattila mit ihrem Einsatz Gänsehaut erzeugen. Einen sehr dunkelstimmigen, vokal wie darstellerisch hochpräsenten Orest gab Tobias Kehrer. Burkhard Ulrich war der bewährte Aegisth. Aus der Schar der Mägde konnten sich Annika Schlicht als 1. und Valeriia Savinskaia als 5. Magd profilieren.         

Ingrid Wanja, 19. März 2023


Arabella
Richard Strauss

Deutsche Oper Berlin

Besuchte Premiere am 18. März 2023

Inszenierung: Tobias Kratzer
Musikalische Leitung: Sir Donald Runnicles
Orchester der Deutschen Oper Berlin