Berlin: „Manon Lescaut“, Giacomo Puccini

Fragwürdiger Durchhalteversuch

Steht auf dem Besetzungszettel der Name des Belgiers Gilbert Deflo für die Regie, dann kann der Besucher eines Opernhauses guten Mutes in dieses hinein marschieren. Er kann sicher sein, dass den Augen ein Schauspiel oder vielmehr eine Oper geboten wird, die die Absichten von Librettisten und Komponisten respektiert, dass er in eine Welt geführt wird, die deren Sicht auf eine Epoche, auf eine geographische Landschaft, auf soziale Gefüge und deren Konflikte und Probleme entspricht, wobei natürlich nicht übersehen werden darf, dass diese selbst wiederum determiniert ist von den deren eigenen Existenzbedingungen. Er, der Zuschauer, muss sich nicht ärgern über ein Zurechtstutzen, eine Entstellung, den Missbrauch eines Kunstwerks für die Verbreitung einer dem Regisseur teuren Ideologie, der Behandlung eines psychischen Notstandes oder ganz allgemein einer eitlen Selbstdarstellung.

© Bettina Stöß

Von all dem erfreulich frei ist also die Manon-Lescaut-Produktion der Deutschen Oper aus dem Jahre 2004, für die William Orlandi Bühne und Kostüme schuf, die erstere streng stilisiert und karg, letztere mit vielen feinen, kleinen Details und extrem rokokoverliebt. Blasse Farben für die Bühne dominieren, so für den ersten Akt Beige, den zweiten und letzten Weiß und den dritten das Grau eines nördlichen Meeres, auf das  sich Manon und ihr Liebhaber begeben,  um sich im vierten Akt mit einigen kleinen rotbraunen Felsen als Lager für die sterbende Manon begnügen zu müssen. Die Personenführung ist sparsam, die für den Chor ein wenig zu pauschalisierend, die für das Gefolge des Geronte fein ironisierend, eine Sichtweise, die auch Madrigalsängern, Friseur, Tanzmeister zu Teil wird. Ein Tanzpaar spiegelt das absurde Verhältnis zwischen dem Greis Geronte und der achtzehnjährigen Manon wider.

© Bettina Stöß

War man im ersten Akt entsetzt über den Zustand des Tenors von Martin Muehle, der doch mit Andrea Chénier einen vorzüglichen Eindruck hinterlassen hatte und der nun nur noch mit enormem Kraftaufwand sehr laute, aber durchaus nicht angenehme, sondern gequält dröhnend-dröge anzuhörende Töne hervorstieß und das bereits für das eigentlich noch ganz lyrische „Tra voi belle“, so irritierte im zweiten Akt zusätzlich die Distanz zwischen Manon und Renato, die kaum auf zu wenig Tentatrice-Verhalten des Soprans zurückzuführen war. Nach der Pause erfolgte die Aufklärung mit einer Ansage von Operndirektor Seuferle, die eine starke Erkältung des Tenors als Grund für dessen unakzeptable sängerische Leistung angab. Da die Indisposition schon einige Tage angedauert haben sollte, Ersatz hätte beschafft werden können, fragt man sich, ob es ein Sänger verantworten kann, seine Stimmbänder einem solchen Stress auszusetzen, von dem man nur hoffen kann, dass die Stimme keinen dauerhaften Schaden davon getragen hat. Sollten die Buhs, die trotz Ansage den Tenor abstraften, dieser Überlegung geschuldet sein, dann erklangen sie zu Recht. Neben einem so eingeschränkten Des Grieux konnte natürlich ein Lescaut mit einem so urgesunden, tragfähigen und farbigen Bariton wie dem von Thomas Lehman besonders prunken und tat es auch höchst eindrucksvoll. Mit seiner Darstellung des Gehetzten, der vor dem Eintreffen der Schergen warnt, erinnerte er direkt an den ebenso atemlosen George Fortune, der in der Manon Lescaut, die der jetzigen voraus ging, der Sergeant vom Dienst war. Maurizio Muraro brachte mit Gewinn Stimmreste und viel Bühnenerfahrung für die Darstellung des Geronte mit, Gideon Poppe ließ als Edmondo noch schmerzlicher die Defizite beim Tenorkollegen hörbar werden, denn seine Stimme klang gesund. Maire Therese Carmack hatte einen ebenmäßigen Mezzosopran für den Madrigalsänger.

© Bettina Stöß

Eine echte Puccini-Stimme, weich, üppig, flexibel, in der Höhe aufblühend, konnte Irina Moreva für die Titelpartie einsetzen. Für „Sola, perduta, abbandonata“ hatte sie eine Fülle von Ausdrucksmöglichkeiten vom zartesten, dabei farbigen Pianissmo bis zum verzweifelten, aber fein konturierten Forte für „Non voglio morir“. Vielleicht hätte ein bisschen mehr darstellerische Pariser Finesse im zweiten Akt ihre Leistung noch vollkommener gemacht, aber sie ist halt keine französische Manon, sondern eine italienische Manon Lescaut.

Den Extremen, sei es die Lautstärke (so in der Reise nach Le Havre) oder seien es die Tempi (rasanter war nie ein Beginn), mehr zugewandt war nie ein Dirigent in dieser Produktion an diesem Haus, was Andrea Sanguineti zu verantworten hatte. Sollte der Tenor genesen oder ersetzt werden, dann ist der Besuch der noch folgenden Vorstellungen unbedingt zu empfehlen, auch das zahlreich erschienene Publikum an diesem Abend zeigte sich sehr zufrieden.

Ingrid Wanja, 12. Mai 2023


Manon Lescaut

Giacomo Puccini

Deutsche Oper Berlin

38. Aufführung nach der Premiere am 19. Dezember 2004

Regie Gilbert Deflo

Musikalische Leitung Andrea Sanguineti