Berlin: „Tosca“, Giacomo Puccini

Worauf kann ein Rezensent, der von den bisherigen 417 Vorstellungen der Tosca-Produktion in der Deutschen Oper Berlin seit 1969 an die fünfzig erlebt hat, noch gespannt sein? Er kann darauf warten, ob der Tenor gewandt die Stufen zur Staffelei, auf der ein riesiges Bild der Magdalena entsteht, auf- und abturnt oder ob er wie einst Luciano Pavarotti ein winziges Portrait zu ebener Erde fertigstellt. Er kann darauf wetten, ob die neue Tosca Kreuz und Leuchter auf bzw. neben dem toten Scarpia platziert oder ob sie sich wie die Premieren-Tosca Pilar Lorengar weigert, eine solch blasphemische Handlung zu vollziehen. Spannend ist auch, ob das liebende Paar im dritten Akt sein Trionfans ins Publikum, wie von Regisseur Boleslav Barlog gewollt, schmettert oder in den Bühnenhintergrund in Richtung Petersdom, wie es Götz Friedrich bei der Auffrischung der Produktion anordnete. Auch muss die Frage beantwortet werden: Fällt er (Cavaradossi) und springt sie (Tosca)? Luciano Pavarotti und Montserrat Caballé zogen es vor, seitwärts abzugehen, was weniger spektakulär war als Lorengars Sprung, dem aus der Tiefe des Tibers ein „O Scarpia, davanti a Dio“ folgte. Einiges ist in den vielen Jahren Tosca an der DOB passiert, was Otto Schenks Parodien entscheidend hätte bereichern können, aber längst vorbei sind die Zeiten, als italienische Fans Tosca Raina Kabaivanska beim Solovorhang mit Blumen überhäuften, was einen Tag später in der Berliner Morgenpost die Schlagzeile Pavarotti mit Blumen überschüttet zur Folge hatte. Jede neue Tosca-Serie weckt die Erinnerung an die vergangenen mit Ingvar Wixell sich abwechselnd mit George Fortune als Scarpia (Renato Bruson wollte bekanntlich seinen Bart nicht für eine Rokoko-Kostümierung opfern) , mit Janis Martin, Gwyneth Jones, Raina Kabaivanska und vielen anderen in der Titelpartie, mit Pavarotti, Domingo, Carreras, Aragall, Shikoff, Moldoveanu, Merighi oder Lamberti, aber auch Jonas Kaufmann als Cavaradossi, und nun greift Vittorio Grigolo sogar in der 417. Vorstellung, die allerdings nicht seine erste hier ist, die Geste des Premieren-Cavaradossi Franco Tagliavini auf, der sich gegen die Meinung Barlogs, der Maler glaube an seine Rettung, mit einer überaus wehmütigen Geste von Tosca verabschiedete.

© Bettina Stöß

Das Bühnenbild von Filippo Sanjust ist mit seiner raffinierten Lichtregie für den dritten Akt noch gut erhalten, Palazzo Farnese war von Anfang an recht schäbig, im ersten Akt werden nun die rechts links außen sitzenden Teile des Publikums um die Prozession zum Te Deum betrogen, da der Vorhang auf dem Gitter nicht mehr entfernt wird. Das ist eigentlich schade, denn die Volkstrachten und die geistlichen Gewänder sind es wert, gesehen zu werden.

Als Dirigenten hatte man den erfahrenen Paolo Arrivabeni gewonnen, der das Orchester zu Höchstleistungen antrieb, manchmal etwa zu robust war, aber eine wunderschöne Stimmung zu Beginn des dritten Akts zauberte, mit sauber intonierenden Bläsern zu Beginn, der die Musik atmen und blühen und ihre überwältigende Sinnlichkeit sich freisetzen ließ.

Eine neue Tosca stellte sich mit der Italienerin Chiara Isotton vor, eine optisch attraktive Erscheinung mit anrührendem Spiel. Zwar gingen „Quanto“ und „IL prezzo“ etwas unter wie auch „Davanti al lui…“, veristisches Auftrumpfen war ihre Sache weniger als ein wunderbar elegisches Vissi d’arte, eine weiche, runde, in der Höhe ohne Schärfen aufblühende Stimme wie aus einem Guss.

© Bettina Stöß

Nicht unterschätzen sollte man die Rolle des Schließers, denn sie kann, das zeigte einst der Vergleich zwischen Ost und West, sehr unterschiedlich gestaltet werden. So gibt es solche, die den Ring nehmen und dafür Papier und Stift geben, andere, die den Ring zwar empfangen, aber Stift und Papier vorenthalten, und andere wieder, die den Ring ablehnen, aber trotzdem Schreibzeug ausliefern und schließlich diejenigen, die alles verweigern. Kyle Miller war einer von der ehrlichen, aber für Gaben empfänglichen Art, Lean Miray Yüksel aus dem Kinderchor sang einen klar und eindringlich klingenden Hirten, Youngkwang Oh erinnerte an den einstigen Dauer-Sciarrone Miomir Nikolic, Jörg Schörner krümmte sich eindrucksvoll als Spoletta, Padraic Rowan war ein vokal wie darstellrisch wendiger Mesner und Samuel Dale Johnson gab dem Angelotti darstellerisches wie vokales Gewicht.

© Bettina Stöß

Als neuer Scarpia stellte sich Geworg Hakobyan vor, der einen idealen Brunnenvergifter-Bariton voll gleisnerischer Farben und eine ebenso finstere Optik für die Partie einsetzen konnte. Zwar war wohl eigentlich Ludovic Tezier im Gespräch gewesen, aber der Armenier enttäuschte in keiner Weise. Optisch zwar nicht der glühende Revolutionär oder Künstler, wohl aber eine angenehme Erscheinung und ein charmanter Liebhaber war Vittorio Grigolo, der kein Mittel ausließ, um auch vokal Effekt zu machen mit einer überstrapazierten Agogik, natürlich lauthals geschmettertem Vittoria und la vita mi costasse, der, leider wohl wegen einer Überstrapazierung seiner eigentlich schönen Stimme, einiges an unedlem Metall hören ließ. Besonders der erste Akt litt darunter, so dass Recondita armonia keinen, E lucevan le stelle jedoch Szenenapplaus erhielt, ganz gegen die Gepflogenheiten im Haus. Dieses war restlich ausverkauft, was zwar auch dem frühen Anfang um 17 Uhr als Familienvorstellung geschuldet war, wohl aber auch der Besetzung und der Gewissheit, mit einer soliden Produktion konfrontiert zu werden.

Ingrid Wanja, 14. Januar 2024


Tosca
Giacomo Puccini

Deutsche Oper Berlin

Besuchte 417. Vorstellung am 14. Januar 2024 nach der Premiere am 13. April 1969

Inszenierung: Boleslav Barlog
Musikalische Leitung: Paolo Arrivabene
Orchester der Deutschen Oper Berlin