23. – 25. März 2018
Das junge holländische Opernfestival sucht weiter nach der Oper von morgen
In der europäischen Opernlandschaft nehmen die Niederlande einen ganz besonderen Platz ein. Denn Amsterdam besitzt erst seit fünfzig Jahren ein eigenes Opernensemble, das seit 1988 durch Pierre Audi geleitet wird. Jünger, gewagter und weltoffener hätte die Intendantenwahl kaum ausfallen können, denn der damals gerade 30-jährige Audi, im Libanon geboren, in Paris aufgewachsen und in London lebend, hatte bis zu seiner Ernennung als Intendant der Niederländischen Staatsoper noch nie eine Oper inszeniert (!). Doch die Rechnung ging auf, und Audi entdeckte zusammen mit seinem Publikum das Medium Oper „auf eine zeitgerechte Art“. So spielt man seit dreißig Jahren an der Nationale Opera in Amsterdam mehr Werke von Schönberg und Stravinsky als von Verdi und Puccini und gibt es jedes Jahr mindestens eine große Opern-Uraufführung. Vor zwei Jahren gab es gleich eine Serie von einem Dutzend Uraufführungen im Rahmen des ersten Opernfestivals der Niederlande, dem „Opera Forward Festival – New voices, New visions“ (worüber wir ausführlich im Merker 4/2016 berichtet haben). Wie der Name schon sagt: in diesem Festival blickt man klar und deutlich nach vorne. Alles ist unglaublich jung und frisch – eben nicht wie man sich traditionell das Medium „Oper“ vorstellt. Zwei Wochen lang wird von morgens früh bis abends spät ein meist kostenloses Programm geboten mit vielen kleinen „Events“, denn fünf junge Komponisten haben fünf kleine Opern von 15 Minuten komponiert, die mehrere Male pro Tag aufgeführt werden. 500 Studenten von den verschiedenen Konservatorien, Film- und Theaterschulen betreuen das riesige Rahmenprogramm (Podiumsdiskussionen, Einleitungen und „After-Talks“), und so weht nicht nur in den Vorstellungen, sondern auch davor und danach ein wirklich „neuer Wind“. Dieses Jahr gab es zum Auftakt des Festivals die „szenische Uraufführung“ von Henzes Oratorium „Das Floß der Medusa“, dessen Uraufführung 1968 in Hamburg wegen politischer Wirren unterbrochen werden musste und erst 1971 in Wien stattfinden konnte. Romeo Castellucci, der als „einer der meist radikalen Theatermacher unserer Zeit“ angekündigt wurde, debütierte in Amsterdam mit einer äußerst radikalen Inszenierung, die „beim Zuschauer dank technischer Tricks, die das Gehirn überfordern, Schwindel und Übelkeit auslösten und ihn seekrank werden ließen“ (so die Rezension im Online Merker). Das haben wir uns erspart und besuchten nur die letzten drei Premieren des Festivals, die sich – im wahrsten Sinne des Wortes – „besser verdauen ließen“.
Stefano Landi
Ein völlig unbekanntes „pendant“ zu Monteverdis „Orfeo“
Pierre Audi debütierte 1988 in Amsterdam mit einer zeitlos schönen Inszenierung von Monteverdis „L’Orfeo“, die er im Laufe der Jahre zu einem längeren Monteverdi-Zyklus ausbaute (in dem auch die Madrigale inszeniert wurden). Dreißig Jahre später beschließt Audi nun seine Intendanz (er wird ab September der neue Leiter des Opernfestivals in Aix-en-Provence) mit einem anderen „Orfeo“, den bis dato eigentlich nur Musikwissenschaftler kannten. Als um 1600 die allerersten „Opern“ in Italien entstanden, stellte man sich in den verschiedenen „Akademien“ die völlig berechtigte Frage, wie man es dramaturgisch verantworten könne, das da jemand auf der Bühne plötzlich nicht mehr spricht sondern singt. So erklärt sich, dass die ersten Opern alle um Orpheus drehen, denn der Halbgott war ja schließlich ein Sänger und Sängern kann man zumuten, dass sie von morgens früh bis abends spät singen. Stefano Landi (1587-1639) hat diese ganzen Diskussionen wahrscheinlich nur aus der Ferne mitbekommen, denn er lebte in Rom, wo der Papst solch fortschrittlich denkende Akademien streng verbot. Landi war Sänger und Kapellmeister im Vatikan und komponierte hauptsächlich Kantaten und eine Oper, „Il Sant’Alessio“, für die Papst Clemens IX das Libretto schrieb. Woher das Libretto von „La morte d’Orfeo“ kam ist nicht bekannt und auch nicht wie es zu einer Uraufführung um 1619 in Padua kam. Ähnlich wie Monteverdis „Favola in musica“ lässt sich Landis „Tragicommedia pastorale in cinque atti“ schwierig zusammenfassen. Sie beginnt dort, wo Monteverdi aufhört: Nach dem zweiten Tod von Eurydike. Orpheus bleibt noch etwas in der Unterwelt, wo er seinen Geburtstag feiert, wozu er alle Götter einlädt – nur nicht Bacchus. Denn der trinkt zuviel und mit dem gibt es immer Raufereien. Frauen sind auch nicht erwünscht, denn so wie Orpheus’ Vater Apoll ihm noch einmal einredet: „die sorgen immer für Scherereien“. Und genau das passiert dann auch: Bacchus und einige wilde Damen sind so beleidigt, dass sie nicht eingeladen wurden, dass sie Orpheus aus Rache zerfleischen – so wie das in einer der vielen Varianten des Orpheusmythos auch passiert. Die Handlung debütiert mit einem Gespräch von Teti (die Göttin Thetis) und Fato (dem Schicksalsgott), wobei sie mit ihren Füssen im Unterweltfluss steht, der golden glänzt zwischen silbernen Muscheln, und Fato oben über den Wolken im Himmel hängt. Es folgen fünf Akte, in denen uns 21 Solisten und vier verschiedene Chöre durch die komplexe Handlung lotsen.
Im Gegensatz zu Monteverdis „L’Orfeo“, wo Audi nur ein paar Steine, Wasser und Feuer brauchte um die Handlung zu inszenieren, stellte sein jetziger Bühnenbildner Christof Hetzer die Bühne voll mit „heutigen Objekten“, so wie ein großes Sofa, das unentwegt über die Bühne geschoben wurde. Sehr zu unserem Erstaunen, denn Hetzer entwarf das sehr gelobte und stark abstrahierte Bühnenbild des „Tristan und Isolde“ (siehe Merker 2/2018 und das interessante Interview mit Pierre Audi dazu). Auch über die Kostüme von Robby Duiveman konnte man sich nur wundern – kamen sie aus dem Fundus? Die musikalische Seite ließ dagegen keine Wünsche offen: Christophe Rousset dirigierte mit der von ihm gewohnten Präzision sein auf Originalinstrumenten spielendes Ensemble Les Talents Lyriques, wobei die Lauten-, Lirone und Blockflötenspieler uns ganz besonders gut gefielen. Die 21 Sänger bestachen durch ihre schönen Stimmen und das auffallend gut aufeinander abgestimmte Musizieren (die Solisten sangen auch alle Chorpartien). Für dieses unbekannte Stück gab es offensichtlich genügend Proben (heute gar nicht mehr selbstverständlich an einem Festival) und man kann nur hoffen, dass es nach den nur drei Vorstellungen auch noch eine Tournee und eine Aufnahme geben wird. Alle Sänger verdienen ein großes Lob, anfangend mit dem argentinischen Tenor Juan Francisco Gatell (Orfeo), der italienischen Mezzosopranistin Cecilia Molinari (Euridice und vier andere Rollen), dem italienischen Bariton Renato Dolcini (Fato) und dem russischen Bass-Bariton Alexander Miminoshvili (Giove). Alles oft recht junge Sänger, von denen wir keinen einzigen kannten und die in diesem jungen Festival teilweise zum ersten Mal ein internationales Podium betreten.
Foto (c) Ruth Waltz
Leonard Bernstein und James MacMillan
Ein unerwarteter „Doppel“ – die diesjährige Überraschung des Festivals
Zu jungen Sängern gehören junge Regieteams und eines der begrüßenswertesten Initiativen des Festivals ist ein internationaler Wettbewerb für die beste Ausstattung einer „Talent-Produktion“. Der Gewinner des diesjährigen Dutch Opera Design Award waren wieder zwei Italienerinnen, Elena Zamparutti (Bühne) und Gisella Cappelli (Kostüme), die eine originelle Ausstattung entwarfen für einen Doppel-Abend voller Überraschungen. „Trouble in Tahiti“ ist ein auch in den USA kaum gespielter Einakter von Leonard Bernstein, der 1951 durch Studenten in der Aula einer Universität uraufgeführt wurde und nun zu Bernsteins hundertstem Jubiläum (siehe Merker 2/2018) wieder ausgegraben wurde. Das Stück spielt nicht in Tahiti und ist von der Aussage her keine Komödie, sondern eine beißende Kritik der amerikanischen Konsumwelt und der kleinbürgerlichen Ehe. Der junge Amerikaner Ted Huffman inszenierte dies mit Phantasie und vielleicht ein bisschen zu viel Video. Der Abend begann mit drei Clowns: Dominic Kraemer, Lucas van Lierop und Kelly Poukens, die trotz ihrer Clownsnase immer sauber sangen. Tyria Haudenhuyse sang und spielte sehr überzeugend die unglückliche Ehefrau (Dinah). Neben ihr wirkte Sebastià Peris i Marco etwas blass als uninteressanter Ehemann, der seiner alten Sekretärin manchmal an den Hintern greift (darf man so etwas heute überhaupt noch auf einer amerikanischen Bühne erwähnen?). Die Eltern blieben szenisch im Schatten ihres Breaktanzenden Sohnes, der zum Publikumsliebling avancierte: abwechselnd Ilya Beaumont und Jasper Fleischmann (beide 15/16 Jahre alt). Der Stern der Vorstellung war der junge britische Dirigent Duncan Ward, der gerade die Orchester-Akademie der Berliner Philharmoniker absolviert hat. Was Ward aus dieser nicht unbedingt interessanten Partitur machte (ein Gelegenheitswerk ohne längere Melodien), interessierte uns weit mehr als das was wir von manchen Dirigenten mit Broadway-Erfahrung zu hören bekommen. Und das mit einem Nederlands Kamerorkest, das mit vielen Jugendlichen besetzt war.
Die für uns größte Überraschung des Abends – und des ganzen Festivals – kam nach der Pause. Die erst mit Konsumartikeln voll gestopfte Bühne war nun ganz leer geräumt: ein Tisch mit ein paar Kerzen, ein Mann und eine Frau – und weiter nur zeitloser Nebel. In diesem mystischen Ambiente fängt der Mann an zu singen: a capella und auf Hebräisch. Die wahrscheinlich ursprünglich originell orientalische Melodie (ein jüdisches Klagelied) entwickelt sich langsam zu einer heutigen Musik, die durch das Orchester – immer noch unter Duncan Ward – weiterentwickelt wird. Sehr besonders wie der britische Komponist James MacMillan, 1959 in Schottland geboren, keltische und orientalische Melodien miteinander vermischt – ähnlich wie es Kaija Saariaho vor zwei Jahren mit tibetanischer Musik tat in ihrer kurzen Oper „Only the sound remains“ (die im Opera Forward Festival uraufgeführt wurde). Die biblische Handlung ist bekannt: Abraham und seine Frau Sarah bekommen Besuch von einem Engel, der ihnen verkündet, dass Sarah (in der Bibel schon neunzig Jahre alt) einen Sohn bekommen wird (Isaac). Hier sind Abraham (Frederik Bergman, der beste und wahrscheinlich auch der erfahrenste Sänger des Abends) und Sarah (Jenny Stafford), wesentlich jünger und der Engel weniger „engelhaft“ als in der Bibel: es sind drei Terroristen mit weißen Engelsflügeln und Munitionsgürteln, die sich Sarah auf eine nicht durchschaubare Art nähern (wird sie vergewaltigt?).
All dies wird nur angedeutet – auch musikalisch. Und so endet dieses jungendliche Festival, das nach vorne blickt, mit einem uns völlig unbekannten Komponisten, von dem wir hoffentlich noch einiges hören werden. Wir sind gespannt!
Foto (c) Hans van den Boogaard
Waldemar Kamer 30.3.2018