Hamburg, Konzert: „Mahler, Larcher“, Oslo Philharmonic Orchestra

Die Zusammenstellung zweier Symphonien, zwischen deren Entstehungszeiten gut 100 Jahre liegen, für das Konzert am 31. Januar in der Hamburger „Elbphilharmonie“ war ausgesprochen sinnfällig. Unter der Leitung von Klaus Mäkelä spielte das Oslo Philharmonic zuerst Gustav Mahlers 4. Symphonie und Thomas Larchers 2. Symphonie mit dem Beinamen „Kenotaph“.

Beide Werke thematisieren (auch) den Tod, aber in völlig unterschiedlicher Weise. Beide verfügen über eine farbenprächtige Instrumentierung und beide enden ohne großes Forte-Finale, sondern klingen sanft aus – inhaltlich jeweils absolut stimmig.

Von einer „seltsamen hohen Heiterkeit“ spricht Bruno Walter, als er Mahlers 4. Symphonie beschreibt und daß hier „eine innige Frömmigkeit ihren Himmelstraum träumt“. Das trifft es sehr gut, dann in der Tat klingt vor allem aus dem Finalsatz eine im besten Sinne naive Sehnsucht nach einem Himmel, wie ihn sich die Kinder vorstellen. Da sind Englein, biblische Figuren und Heilige zu einem großen Festmahl versammelt, bei dem angeblich die irdischen Freuden gemieden werden, aber die Darstellung ist alles andere als abstrakt, sondern saftig-sinnlich.

Johanna Wallroth © Heikki Tuuli

Bekannt ist die Bemerkung des Komponisten zum ersten Satz, denn der „beginnt, als ob er nicht bis drei zählen könnte, dann aber geht er gleich ins große Einmaleins und zuletzt wird schwindelnd mit Millionen und aber Millionen gerechnet“. Bei aller Kindlichkeit grinst doch immer wieder der Tod durch die Partitur – auch hier äußert sich Mahler unmißverständlich, denn im 2. Satz spielt „Freund Hein […] zum Tanz auf“ und zwar mit Solo-Geige. Da darf durchaus Alfred Rethels „Auch ein Totentanz“ assoziiert werden, wo die Violine des großen Gleichmachers aus Knochen besteht. Das Trompetensignal zum Ende des ersten Satzes wird den ergreifenden Trauermarsch seiner 5. Symphonie eröffnen, da bahnt sich also stets das Düstere an.

Um es gleich zu sagen: So brillant Mäkelä das Heiligtum der „Auferstehungssymphonie“ im vergangenen Jahr zum Strahlen gebracht hat (hier unsere Kritik), so deutlich muß gesagt werden, daß seine Interpretation der 4. Symphonie, bei aller Expressivität seines Dirigats, nicht durchweg überzeugte.

Bereits zu Beginn des ersten Satzes gab es drei – zwar kleine, aber bemerkbare – Einsatz-Inkorrektheiten. Wahrscheinlich haben das nur diejenigen gehört, die das Werk gut kennen; in jedem Falle führte das bereits zu einem Mangel an Konzentration. Gerade bei Stücken, die ironisch gebrochen sind und mit höherem Humor spielen, ist absolute Akkuratesse unbedingt notwendig, sonst gehen die Zwischentöne verloren.

Durch das störende Klatschen nach dem ersten Satz war die Spannung völlig heraus und der ganze zweite Satz dümpelte zeitweise so vor sich hin. Wenngleich die Erste Violine von Elise Båtnes absolut makellos erklang, so fehlte hier doch insgesamt das Grelle und Spukhafte. Bei den kantablen Partien allerdings dehnte Mäkelä einzelne Töne sensibel, ja hingebungsvoll und vermied so ein mögliches Herunterspielen.

Den Beginn des dritten Satzes spielten die Osloer wunderbar schmiegsam; Mäkeläs Entscheidung für ein sehr gemächliches Tempo diente diesem zauberhaften Kernstück der Symphonie – man kann den Satz am Anfang kaum zu langsam spielen. Im weiteren Verlauf bereitet sich das Wichtigste, Himmlischste der „Vierten“ vor, nämlich das Aufbrechen der Himmelstore im gleißenden E-Dur-tutti. Das war zwar schön forte umgesetzt, aber es fehlte das goldene, überirdische Leuchten. Kurz darauf daran schließt sich ein sphärisch-fließendes Licht an, in dem Mahler Sonnenstrahlen, die sich weit über den sich klanglich auftuenden Horizont breiten, tongemalt hat. Diese Stelle muß, um das Licht zum Tönen zu bringen, mit größtmöglicher Zartheit gespielt werden, aber hier glomm es auf und entschwand ohne den echten Zauber, der die Ferne mit dem tiefsten Inneren zu verbinden vermag.

Mahlers „Vierte“ hat es offenbar nicht leicht in der „Elphi“ und manche erinnern sich mit Grausen an die Unterbrechung des dritten Satzes durch lautes Schnarchen vor zwei Jahren. Da hatte Nézet-Seguin auch seine liebe Mühe mit dem Publikum.

Ausgesprochen hell und klar sang Johanna Wallroth das beschließende Lied von den himmlischen Freuden; ihr jugendlicher Sopran entsprach völlig dem kindlichen Bild mit den pummeligen Englein, die aus den Töpfen naschen, und das Textverständnis war ausgezeichnet. Nur hätte man sie besser neben den Dirigenten, also vor das Orchester plaziert, denn dort, wo sie stand, nämlich hinten rechts, drang ihr himmelblauer Gesang nicht immer durch.

In den letzten Tönen breitete sich tatsächlich eine himmlische Ruhe aus, die den ganzen Saal erfüllte und all diejenigen ergriff, die zuvor eher durch Unruhe aufgefallen waren. Einer der wirklich innigen und großartigen Momente in dieser Interpretation!

Gerade für Johanna Wallroth gab es anschließend herzlichen Beifall, aber „Bravo!“-Rufe für den Dirigenten blieben aus.

Wer wegen Maher gekommen war, wurde also eher enttäuscht und dann von Larcher im positivsten Sinne überrascht und überzeugt. Thomas Larcher hat dieses kantige, harsche, aber unbedingt in die Seele gehende Werk den Tausenden von Flüchtlingen gewidmet, die auf der Flucht vor Krieg und Verfolgung im Mittelmeer ertrunken sind. Manches in dem Stück erinnert ein bißchen an Filmmusik, was aber die Wirkung nicht schmälert, denn der ganze Duktus ist ernst und unbarmherzig, vor allem aber vom ersten knallenden Ton an hervorragend wiedergegeben. Mit der Kenntnis der Zueignung entwickeln sich beim Hören Bilder von Flucht, Hoffnung und Resignation und so wirkt die erstaunliche Komposition durchaus wie Programm-Musik.

Schlagwerk und eine stoßend-ruppige Rhythmik formen ein Klanggebilde, das sich synästhetisch anfühlt wie scharfkantige Klippen, über die man mit nackten Füßen hasten muß. Gnädige Streicher schaffen hoffnungsvolle Szenen, aber die Unruhe bleibt und prägt stets alles. Dissonanzen und tonale Aspekte fügen sich bei aller Schroffheit harmonisch ineinander und erlauben einen Zugang zur Thematik. Die Tutti sind mitreißend und gewaltig, eine ragende Größe erinnert durchaus an Mahler. Schneidend scharfe Violinen reißen Wunden auf, von oben bzw. außen angeschlagene Saiten des Flügels entwerfen ein unwirkliches, unheimliches Bild.

30 bis 40 Leute klatschen nach diesem Satz, aber nun gibt Mäkelä mit einem Handzeichen klar zu verstehen, daß das ebenso unangebracht ist wie Klatschen nach einer Predigt, denn dieses Stück hat ernstesten, dramatischsten Hintergrund. Ohnehin fragte man sich bei Teilen des Publikums, weswegen diese sich für diesen Elphi-Abend entschieden hatten. Zwei Jugendliche, die nervös mit den Programmheften wedelten, hatten sich aus unerfindlichen Gründen in dies Konzert verirrt, aber nach der Pause den Saal verlassen.

Glücklicherweise bleibt die Spannung bestehen und im zweiten Satz entstehen in sich gekehrte Szenen hoffnungsvollen Aufschauens, Celesta und Orgel schaffen eine positivere Grundstimmung. Leuchten aus der Ferne wirkt wie Sonnenstrahlen auf dem Wasser und vermittelt die Verheißung auf eine glücklichere Zukunft, aber die Idylle trügt. Sturm kommt auf, im Strudel versinken verzweifelte Menschen, harte Violinen-Pizzicati malen kalte Regentropfen.

Unruhe schaffen auch im dritten Satz die Streicher, die Flucht geht erbarmungslos weiter und die Windmaschine zeigt an, daß der Sturm nicht vorbei ist. Peitschenknall-Effekte des Schlagwerks wirken wie Ohrfeigen, was die nervös-unsichere Stimmung erhöht. Das geschieht aber vor allem durch einen raschen Wechsel in Dynamik und Tempo, Crescendi verkünden nichts Gutes und geben den harten Wellenschlägen mit brutaler Rhythmik beklemmenden Ausdruck. In einem jähen Aufschrei macht sich Todesangst hörbar.

Plötzlich schwingt die Stimmung um und heimelig-lyrische Kammermusik-Reduktion mit Holzbläsern und Streichern zeichnet womöglich die Hoffnung auf eine glückliche Ankunft. Optimistische Trompeten und Röhrenglocken scheinen baldige Rettung zu verheißen – oder läuten bereits die Totenglocken? Die Sätze gehen ineinander über und bald entstehen wieder die zackigen Klippen, auf denen kein Gehen ohne Verletzung möglich ist.

Klaus Mäkelä © Kaupo Kikkas

Wie Keulenschläge kommen jetzt mit größter Erbarmungslosigkeit die Hiebe – wer da an den 2. Satz aus Mahlers 5. Symphonie denkt, dürfte nicht ganz falsch liegen – und der Todeskampf in den Wellen des Meeres, an dessen Stränden die Europäer Urlaub machen, wird immer spürbarer.

Der Tod kommt nicht mit Pathos, er nimmt mit bedrückender Stille Besitz von der ganzen Szenerie. Alles ist ruhig. Keiner hat überlebt.

Ein grausames, großartiges, absolut überzeugendes Stück, dem man wünschen mag, daß sich diejenigen, die Vertreibung und Flucht überlebt haben, darin verstanden fühlen.

Die Instrumentierung ist maximal und vielleicht hätte es das Akkordeon nicht unbedingt gebraucht. Aber das Ganze ist eine aufrichtige Würdigung derjenigen, die nie eine echte Chance hatten, aber alles wagten. Ein Kenotaph ist ja ein Scheingrab, meist fern von der Stelle des Todes der jeweiligen Person, und Aufgabe eines solchen Monuments ist Erinnerung und Ehrung. Das hat Larcher geschaffen.

Den begeisterten Beifall für Werk und Umsetzung holt sich der hier anwesende Komponist gemeinsam mit Dirigent und Orchester ab. So endet ein Abend für viele überraschend und letztendlich trotz der Härte erfüllend.

Andreas Ströbl, 2. Februar 2024


Hamburg
Elbphilharmonie
31. Januar 2024

Gustav Mahler, Symphonie Nr. 4
Thomas Larcher, Symphonie Nr. 2

Musikalische Leitung: Klaus Mäkelä
Oslo Philharmonic