Essen: „Norma“

Premiere am 8.10. 2016

TRAILER

Norma ist sauer

Bisher war es gelungen, ihre gallischen Landsleute ruhig zu stellen. Jetzt regt sich der Widerstand gegen die römischen Besatzer. Die Geduld ist am Ende. Norma hat ein vitales Interesse, den Konflikt zu dämpfen: Die zur Keuschheit verpflichtete Priesterin pflegt seit Jahren eine verborgene Beziehung, noch dazu zu einem Römer, dem kommandierenden Prokonsul der Besatzungstruppen. Noch einmal will sie die Lage unter Kontrolle halten: „Sediziose voci“, ihr Auftritt in Bellinis wohl berühmtester Oper, weist die aufrührerischen, kriegerischen Stimmen in die Schranken. Doch in der neuen „Norma“ am Aalto-Theater Essen, der ersten von nur fünf Neuinszenierungen der Saison, wendet sich Katia Pellegrino, ganz in Weiß, ans Publikum. So als ob der Unmut aus dem Essener Publikum und nicht aus den Reihen der brav angetretenen, ordentlich gereihten Gallier käme.

Was Tobias Hoheisel und Imogen Kogge in ihrer Regiearbeit präsentieren, mag Anhängern von „Werktreue“ angemessen vorkommen, ist aber tatsächlich weit von dem entfernt, was Vincenzo Bellini seinem Genius und Felice Romanis gekonnten Versen abgewonnen hat. Norma wird noch öfter das Parkett ansingen; auch der Römer Pollione und seine neue heimliche Geliebte Adalgisa werden in Hoheisels kalt glänzendem Bühnenbeton – oder sind es metallisch angestrahlte Bretter? – ihre Kantilenen brav aufgereiht von sich geben. Zwischen zwei drehbaren Halbkreisen, die sich problemlos für die nächsten Premieren von „Lohengrin“, „Le Prophète“ oder „Rigoletto“ wiederverwenden ließen, wird viel gestanden und würdig dahergeschritten. Der Chor bewegt sich nach den Mustern der italienischen Provinz der siebziger Jahre; ringende Hände und schräg gelegte Köpfchen wollen ein Drama szenisch vergegenwärtigen, in dem jede der flammenden Emotionen ins Extrem gesteigert wird. Denn die Schönheit der Melodien Bellinis darf nicht mit klassizistischer Gemessenheit verwechselt werden.

Für die Qualität einer Inszenierung – das muss gelegentlich betont werden – ist nicht entscheidend, ob sie sich aktueller politischer Chiffren oder der inzwischen auch zur Konvention erstarrter Versatzstücke des Regietheaters bedient. Man braucht Pollione nicht als Donald Trump oder Norma im billigen Top, um aus Bellinis Oper herauszudestillieren, was gerade als aktuell empfunden werden könnte. Man muss sich nicht den Konzepten anschließen, die in den letzten Jahren etwa in Bonn oder jüngst in Gelsenkirchen und Mainz zu packend zugespitzten, sicher auch anfechtbaren Deutungen geführt haben. Aber diese Inszenierungen hatten, was der Essener Premiere abgeht: Profil und Mut zur inhaltlichen Positionierung.

Hoheisel und Kogge packen ein Gesten- und Bewegungsrepertoire aus, das spätestens seit den neunziger Jahren ins Museumsdepot gehört. Wie die italienische Primadonna den Busen hebt und die Fäuste von sich streckt, erreicht nicht einmal minimale psychologische Glaubwürdigkeit. Als sich die beiden Damen, Norma und Adalgisa, in ihrem Duett im zweiten Akt am Souffleurkasten lagern wie Goethe in der Campagna, scheint der Gipfel dekorativer Belanglosigkeit erreicht. Weit gefehlt: Diese Ehre gebührt dem orangeroten Licht, das Wolfgang Göbbel nach drei Stunden inspirationsloser Ausleuchtung zum Finale von hinten aufglühen lässt: der Scheiterhaufen! Der Abend der „großen Gefühle“, den Intendant Hein Mulders bei der Premierenfeier hervorgehoben hat, findet jedenfalls auf der Szene nicht statt.

Das war zum Glück musikalisch anders: Nicht so sehr bei Dirigent Giacomo Sagripanti, der das Orchester mit viel Liebe zur Melodie, aber oft nur beiläufigem Blick auf instrumentale Details und begrenzter Finesse der metrischen Flexibilität führt. Aber Jens Bingerts Choreinstudierung überzeugt nicht nur im martialischen Vorzeigestück des „Guerra! Guerra!, sondern auch im emotionalen Ausnahmezustand im Finale. Unter den Solisten gelingt dem neuen Ensemblemitglied Bettina Ranch als Adalgisa die Balance zwischen technisch superbem, von feinem Glanz geadeltem Gesang und emotionaler Hingabe. Schöne Stimmen aus dem Ensemble hört man auch in den Nebenrollen: Albrecht Kludszuweits Tenor kann als Flavio unangespannt leuchten, Liliana de Sousa zeigt als Clotilda eine samtene Noblesse, die man in einer größeren Rolle gerne genauer studieren würde. Insung Sim kann als Oroveso nur wenige Kostproben eines klangvollen, abgerundeten Basses geben.

Katia Pellegrino hat 2012 in der legendären „Norma“-Inszenierung von Jossi Wieler und Sergio Morabito in Stuttgart die Titelpartie gegeben. Dort waren die seelischen Kämpfe und Verwundungen der zweifachen Mutter, die ihr öffentliches Amt beschädigt, und der Priesterin, die ihre menschlichen Regungen verbergen muss, psychologisch detailliert ausinszeniert. Pellegrino hat davon nichts mitbringen können, ist in Essen wieder auf das antiquierte Rollenbild mit seinen Primadonna-Zügen und seinem hohlen Heroismus festgelegt. Zunächst sieht es so aus, als trete sie in die Spur veristisch geprägter Norma-Darstellerinnen mit wuchtigem Timbre und von stilistischer Finesse nicht angekränkelten Tönen. Doch in der Belcanto-Probe von „Casta diva“ lässt sie mit einem gestützten, weich geformten Piano-Beginn aufhorchen und entwickelt einen schwellenden, satten, aber kaum einmal übertrieben üppigen Klang.

Auch die Duette mit Adalgisa und der große Monolog zu Beginn des zweiten Akts sind bei Pellegrino ausdrucksstarkes, mit technischer Präzision und expressivem Instinkt gestaltetes Singen. Das würde man gerne auch über den Pollione Gianluca Terranovas sagen, der ihm weit besser gelingt als sein Don Carlo an der Düsseldorfer Rheinoper. Aber in seinem Auftritt („Meco all’altar di Venere“) stellt er doch eher die Stimme aus, als an den Schattierungen zu feilen, mit denen er die unheimliche Traumvision einer gespenstisch gestörten Hochzeit hätte ausdrücken können. Und Terranovas Piani – die für seinen Gestaltungswillen zeugen – scheitern dann an mangelnder Formung und Stütze. Am Ende wurde das Regieteam buhlos gefeiert; der Beifall zögerte nur kaum merklich und schwoll gleich wieder an, als sei es gleichgültig, wie diese Inszenierung Bellinis Oper an die Bedeutungslosigkeit verraten hat.

Werner Häußner 16.10.16

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Bilder (c) Aalto / Jung