Essen: Tops und Flops – „Bilanz der Saison 2023/24“

Auch in diesem Jahr haben wir unsere Kritiker wieder gebeten, eine persönliche Bilanz zur zurückliegenden Saison zu ziehen. Wieder gilt: Ein „Opernhaus des Jahres“ können wir nicht küren. Unsere Kritiker kommen zwar viel herum. Aber den Anspruch, einen repräsentativen Überblick über die Musiktheater im deutschsprachigen Raum zu haben, wird keine Einzelperson erheben können. Die meisten unserer Kritiker haben regionale Schwerpunkte, innerhalb derer sie sich oft sämtliche Produktionen eines Opernhauses ansehen. Daher sind sie in der Lage, eine seriöse, aber natürlich höchst subjektive Saisonbilanz für eine Region oder ein bestimmtes Haus zu ziehen.

Nach dem Staatstheater Nürnberg blicken wir heute auf das Aalto-Theater Essen.


Gesamteindruck:
Während andere Intendanten einfach alles spielen, was ein volles Haus und eine volle Kasse bringen, hat Merle Fahrholz in ihrer ersten selbst konzipierten Saison wenigstens ein Konzept: Sie setzt auf weibliche Regisseurinnen und Komponistinnen sowie Opern von oder über unterdrückte Menschen. – In der nächsten Saison geht es mit Zauberflöte, La Cenerentola, La Forza del Destino und Parsifal wieder um eine volle Kasse.

Beste Ausgrabung:
Fausto von Louise Bertin aus dem Jahr 1831 ist ein gelungener Beitrag zu Reihe der französischen Faust-Opern. Von dieser Komponistin würde man gerne mehr auf deutschen Bühnen sehen. Einen Glöckner von Notre Dame gibt es von ihr auch noch.

Sinnloseste Ausgrabung in schwacher Regie:
Die Biografie des Mozart-Zeitgenossen Joseph Bologne (Sohn eines Plantagenbesitzers und einer Sklavin, Geigenvirtuose und Konzertveranstalter in Paris) ist spannender als seine Musik zur Oper L‘ Amant Anonyme. Regisseurin Zsófia Geréb versucht das öde Stück mit Amateurchor, Poetry-Slammern und Breakdancern im Bühnenbild einer abgespielten Gärtnerin aus Liebe-Produktion aufzupeppen. Alles verlorene Liebesmüh.

Reinfall zur Saisoneröffnung:
Emily Hehls Regie-Reinfall mit Verdis Macbeth. Vier Monate später beweist die Jungregisseurin in Dortmund bei Le Montagne Noire von Augusta Holmès, dass sie eine werkdienliche und spannende Produktion auf die Bühne bringen kann.

Erfolgreichste Einspringerin:
Sopranistin Netta Or springt erst drei Tage vor der Fausto-Premiere ein und singt die Partie der Margarita bei der Premiere perfekt und einfühlsam vom Blatt, während Regisseurin Tatjana Gürbaca die Rolle spielt.

Meistbeschäftigter Sänger:
Heiko Trinsinger adelt jede Rolle mit seinem vollen und wohlklingenden Bariton (Titelpartie in Wozzeck, Amonasro in Aida, Kurwenal in Tristan und Isolde, Michele und Gianni Schicchi im Trittico).

Gute Wiederaufnahmen:
Während die Premieren nicht richtig überzeugen können, gibt es mit Aida (Hilsdorf/1989), Tristan und Isolde (Kosky/2006) und Il Trittico (Schwab/2022) gleich drei starke Wiederaufnahmen.

Skurrilster Abend:
Nach neun Jahren im Essener Ensemble und in Saison, in der sie nur Hauptrollen singt, wird der Vertrag von Publikumsliebling Jessica Muirhead nicht verlängert. Mit der Titelpartie in Suor Angelica muss sie sich am 20. Juni 2024 vom Aalto Theater verabschieden. Vom Publikum und vom Orchester gibt es viele Blumen, auf der Bühne fließen Tränen. Für die nicht anwesende Intendantin Merle Fahrholz gibt es Buh-Rufe. – Weil sich eine andere Sängerin in der Pause verletzt, kann die Vorstellung von Il Trittico nicht mit Gianni Schicchi zu Ende gebracht werden und wird abgebrochen.


Die Bilanz zog Rudolf Hermes.