Baden-Baden: „Faust“

Musikalisch vom Feinsten

(Charles Gounod)

Vorstellung am 12.06.2014 (Premiere am 06.06.2012)

Gelungene Bebilderung zwischen grand opéra und drame lyrique

Um in einer mittleren Stadt, dazu etwas abseits der Ballungsgebiete, das riesige Festspielhaus für drei Opernabende voll zu bekommen, muss Intendant Mölich-Zebhauser bezüglich des Programms und der Inszenierung immer eine Gratwanderung unternehmen, vor allem seit alle Wagner-Opern schon zweimal durchgespielt worden sind. Ganz außerhalb des großen Repertoires darf er sich nicht bewegen; bei den Inszenierungen sind (aus deutscher Sicht) rechte Zugeständnisse nicht nur an das gepflegte Publikum in der Kurstadt, sondern auch an die jeweiligen Usancen des Landes eines ggf. koproduzierenden Hauses zu machen. Aber mit einem Pfund wird in Baden-Baden immer gewuchert: das sind die Sänger-Besetzungen bis in die Nebenrollen. Da müssen stets zugkräftige Namen her. Diesmal war schon lange im Voraus Anna Netrebko in der „Titelrolle“ angekündigt, (wenn man denn die Oper denn noch Margarethe nennen würde.) Aber Netrebko sagte ab, weil sie sich die Rolle dann doch nicht zutraute (hatte sie vorher nicht einmal ins Libretto geschaut oder eine CD gehört?). Man erinnert sich, dass sie zu den Pfingstspielen 2013 die Gräfin den den Nozze übernehmen wollte und sich diese Rolle auch „nicht zutraute“. Oder hatte Anna Netrebko bloß zu große Augen? Wird das Festspielhaus mit dieser Sängerin einen weiteren Versuch nur wegen ihres Namens unternehmen? Das wird sich zeigen.

Dann zog die Intendanz einen anderen Trumpf aus dem Ärmel: Angela Gheorghiu hatte zugesagt. Als diese Diva aber Haare in der Suppe des Inszenierungskonzepts gefunden hatte, stand das Opernhaus wieder ohne Marguerite da. Als dritte Wahl kam nun die bulgarische Sopranistin Sonya Yoncheva zum Zuge, wohl eine gleichwertige, also doch erste Wahl. Zudem ist Frau Yoncheva schon sichtbar schwanger, so dass man sich keine besser glaubhafte Darstellerin des Gretchens denken konnte. Dazu brachte sie zur Verzauberung des Publikums auch alle stimmlichen Mittel vom innig-lyrischen Schmelz mit bestem Legato bis zu dramatisch gefärbten klaren und kräftigen Höhen. Auch mit der Beweglichkeit der Stimme in der Juwelenarie (« Ah, je ris de me voir si belle »), den leichtgängigen Koloraturen und dem einfachen, liedhaften „Es war ein König in Thule“ und sorgsam ausnuancierten Färbungen war sie in dieser Rolle jederzeit authentisch und glaubwürdig. Frau Yoncheva ließ einen die Absagen verschmerzen.

Erwin Schrott (Méphistophélès; Charles Castronovo (Faust-alt)

In Frankreich hatte sich nach der Napoleonszeit eine bedeutende kulturelle Germanophilie gebildet, die noch mehr als an der deutschen Musik an der Literatur festzumachen war (Goethe, ETA Hoffmann und Heine) und durch das populäre Werk „De l’Allemagne“ der Madame de Staël bekräftigt wurde, welches das Deutschland-Bild der Franzosen bis 1871 beherrschte. (Bis dahin hatten die Deutschen den Franzosen auch nie etwas weggenommen.) U.a. der Faust tat es den Franzosen an, nachdem er durch die Übersetzung von Gérard de Nerval in Frankreich bekannt geworden war. Michel Carré hatte unter Konzentration auf den Gretchen-Stoff des Fausts sein fantastisches Drama „Faust et Marguerite“ verfasst, das er zusammen mit Jules Barbier zu einem Libretto für Gounods Oper umgestaltete. Die erste Fassung mit gesprochenen Dialogen kam 1859 in der opéra comique zur Uraufführung, eine zweite Fassung mit durchkomponierten Rezitativen 1869 in der salle Pelletier der Pariser Oper. Das Werk hatte von Anfang an einen durchschlagenden Erfolg; in Deutschland wurde es indes zunächst unter dem Titel Margarethe bekannt. Diese Umbenennung ist aus deutscher Faust-Sicht auch nachvollziehbar. Schließlich wünscht sich der angeblich vom Erkenntnisdrang getriebene Faust, als der Teufel ihm seinen wichtigsten Wunsch erfüllen wollte, ja nicht etwa verbesserte Methodik zum geistigen Forschven und Sinnen, sondern einfach nur seine Jugend zurück, auf dass eine junge, schöne Gespielin für ihn wieder Sinn mache. Den so erleichterten Rührstoff hat Gounod mit einer Musik versehen, der bis heute der Anwurf der Süßlichkeit anhaftet. Gounod- und Franzosenverächter Wagner bemerkte dazu fälschlich: „Ohne allen Ehrgeiz geht (Gounod) daran, das Goethesche Gedicht in den für sein Pariser Publikum nötigen Effekt-Jargon zu übersetzen …“ Aber es war ja Carré, der den Stoff für den breiteren Publikumsgeschmack so umgeformt hatte, und Gounod hat dazu eine passende Musik à la mode komponiert. „Gounod bewegte sich auf schon abgesunkenen Kulturgütern der Tradition“ bemerkt allerdings auch Ulrich Schreiber. (Weietere Äußerungen Wagners zu Gounods Musik diskreditieren ihn selber mehr als den Franzosen.)

In der Mitte: Erwin Schrott (Méphistophélès); Chor, Statisten

Erkenntnisgewinn könnte nun vielleicht eine neue gehaltvolle Inszenierung des Stücks bringen; aber für die Arbeit des Regisseurs Bartlett Sher in Baden-Baden (in Koproduktion mit der Metropolitan Opera) ist das kein Hauptanliegen. Es ist vielmehr eine geschickte, gediegene und überwiegende gekonnte Arbeit am Überkommenen, die auch am amerikanischen Geschmack (s.o.) ausgerichtet ist. Michael Yeargan hat dazu ein raffiniertes, überzeugendes Bühnenbild entworfen. Man sieht im ersten Akt einen großen klassizistischen getäfelten Raum mit einem großen Bücherschrank an der Rückwand, davor einen Schreibtisch, an welchem die Gedanken des frustrierten Faust gen Selbstmord wandern, bis er den Teufel anruft. Links steht ein Pflegebett; hier ist Fausts Frau untergebracht. Um die muss er sich auch noch kümmern. Als Mephisto den Dr. Faust wunschgemäß verjüngt, bleibt Frau Fausts Alter erhalten. In weißem Nachthemd geistert sie fortan über die Bühne und mischt sich vielfach stumm irgendwo ein. Der Ehebruch ihres Mannes berührt sie weniger, als das, was er damit anrichtet. Die Figur verleiht dem Geschehen einen Anflug von Retrospektive. Das kann man heute anscheinend mit jeder Oper so machen; denn man sieht das sehr (zu) häufig. Später wird noch eine zweite Stimme Figur hinzugefügt: Marguerite als kleines Mädchen oder vielleicht ihre kleine Schwester, ebenfalls im weißen Hemdchen mit einer Puppe. Mehrwert schaffen diese Figuren nicht; aber stören tun sie auch nicht. Sie werfen aber ein zusätzliches Licht auf ein Thema der Oper: das Altern.

Erwin Schrott (Méphistophélès); Sonya Yoncheva (Marguerite)

Mehrwert schafft indes das Bühnenbild: Die Rückwand kann weit nach hinten verschoben werden, so dass in einem letztlich gleichbleibenden Rahmen Platz für zusätzliche Requisiten und den großen Chor geschaffen werden, wobei die Spielorte entsprechend gekennzeichnet sind: ein Ausschank und ein Riesenrad für die Jahrmarktszene oder heruntersinkende Säulenreihen und ein Altar mit Kerzen für den Kirchenraum, Laternen für die Straßenszene usf, aber gar nichts allerdings für die Walpurgisnachtszene, wo der große leere Bühnenraum gänzlich für die Bewegungsregie gebraucht wird. Die an sich nicht sehr wichtige Frage, wann das ganze spielen soll, beantworten ebenso unspezifisch wie die Requisiten die vielfältigen und Kostüme von Catherine Zuber für Chor und Solisten: vielleicht um die Zeit des letzten Weltkriegs — Gut gelingt der Regie die Zeichnung der Figuren. Bei der Bewegungsregie benutzt Bartlett Sher zwei grundverschiedene Stilmittel: Statik bis zum Rampensingen und Aufstellungnehmen des Chores einerseits bis zu spannend durchchoreographierten Chorszenen (Jahrmarkt- und Walpurgisnachtszenen), die sicher auch die Handschrift der Choreografin Maxine Doyle tragen. Die Massenszenen sind dazu noch sehr opulent ausgestaltet. Sher lässt die Oper in einem Krankenzimmer schließen: Marguerite wird von ihren Wahnvorstellungen mit einer Spitze von Méphistophélès ruhig gestellt.

Erwin Schrott (Méphistophélès); Sonya Yoncheva (Marguerite); Charles Castronovo (Faust)

Obwohl zuerst als „opéra comique“ aufgeführt, entbehrt Faust nicht des noch starken Einflusses der grand opéra: die fünfaktige Form, die großen Chortableaus und Ballett-Einlagen passten auch noch nicht zum sich gerade entwickelnden drame lyrique. Gerade sie machen aber zusammen mit einer wandlungsfähigen, süffigen leicht eingänglichen Musik den Hauptreiz der Oper aus. In Baden-Baden gelangte dabei ein an sich nicht besonders operngeübtes Orchester, nämlich das NDR Sinfonieorchester unter dem Dirigenten Thomas Hengelbrock zu zweieinhalb Sternstunden. Da herrschte im Graben überwiegend Klangperfektion pur und zwar über alle musikalischen Facetten des Werks von farbenreicher volkstümlicher Musik bis zum Choralsatz der Chorszenen oder der Sakralmusik mit Orgel in der Kirchenszene. Hengelbrock gestaltete mit abwechslungsreichen Tempi und spannenden Steigerungen bei einem romantisierenden runden Klang, meistens satt von dem großen Streicherapparat grundiert. Die Holzbläser kommen vielfach solistisch, aber auch einfach farbgebend; das Blech intoniert feierliche Strecken. Stets war auf Transparenz geachtet. Besondere Anerkennung gebührte dem großen Philharmonia Chor Wien (Einstudierung: Walter Zeh); dessen Präzision in sich, Klangschönheit und -Kraft waren so bemerkenswert, dass man über einige Ungenauigkeiten zwischen Graben und Bühne getrost hinweghören durfte.

Solistisch war das Bühnengeschehen vom Bassbariton des Erwin Schrott als Méphistophélès beherrscht. Darstellerisch allein war Schrott schon eine Wucht: ein nicht ganz unsympathischer, glatter Schurke, der mit unbeschreiblicher Leichtigkeit sein urkräftiges dunkles Stimmgold von überaus geschmeidigem Schmelz mit überlegener Technik präsentierte. Der Tenor von Charles Castronovo als Faust kam da nicht ganz mit. Auch darstellerisch fiel er hinter beiden anderen Hauptdarsteller zurück. Castronovo konnte mit seiner bronzenen kräftigen Mittellage durchaus punkten, blieb aber bei Spitzentönen Klarheit schuldig. Bestens besetzt waren alle Nebenrollen: Valentin als biederer, sich selbst bemitleidender Soldat mit kultiviertem, kräftigem Bariton: Jacques Imbrailo; Siébel mit glockenreinem, klarem Sopran und lebhaftem Spiel: Angela Brower; Wagner in kleinem, aber feinem Einsatz mit sonorem Bassbariton: Derek Welton und nicht zuletzt die komische Rolle der Marthe Schwerdtlein: mit rundem samtigem Mezzo: Jane Henschel. Emanuela von Frankenberg spielte die im Programmheft als femme angeschriebene Stumme Rolle von Fausts Frau – einige Schreie waren ihr zugestanden. Felicia Schuld trieb es auf der Bühne als l’enfant“ um.

Fazit: mit einer insgesamt gefälligen und abwechslungsreichen Regie ein musikalisch ausgezeichneter Opernabend, dem das Publikum viel Beifall zollt.

Manfred Langer. 14.06.2014 Fotos: Andrea Kremper