Baden-Baden: Johannespassion

Vorstellung am 18.04.2014 (Premiere am 13.04.2014)

Halbszenisch: Passion als die Tragödie eines Menschen, der von sich behauptet, König zu sein

Neben Bachs Weihnachtsoratorium ist seine Matthäuspassion immer noch das Vorzeigewerk der deutschen sakralen Chormusik, die hierin Macht und Pracht des Glaubens feiert. Ganz anders dagegen seine Johannespassion, die sich viel stärker und innerlicher mit dem Leiden und Tod Jesu befasst und sich so direkt mit ihm auseinandersetzt, dass es nicht Wunder nimmt, wenn man sich dieses Stück schon häufiger szenisch und halbszenisch vorgenommen hat, zumal es einen starken dramatischen Impetus hat. Auch die größere Kürze des Werks trägt zur dramatischen Stringenz bei. Richtig veropert hat Dietrich Hilsdorf die Passion in seiner vielbeachteten Inszenierung am Staatstheater Wiesbaden 2005. Die Zahl der halbszenischen Aufführungen – meist in Kirchenräumen – ist Legion. Beeindruckende Bilddolumente gibt es von der Produktion von Werner Düggelin für das DRS 1885 sowie von der von Hugo Nibeling 1991 (Johannespassion: „Es wäre gut, dass ein Mensch würde umbracht für das Volk“)

Peter Sellars, der 2010 zu den Salzburger Osterfestspielen eine halbszenische Version der Matthäus-Passion vorgelegt hatte, erarbeitete nun im Zusammenwirken mit Simon Rattle auch die Johannespassion im gleichen Stil und nennt das Ergebnis „szenische Präsentation“. Es wird nicht in Kostümen und Kulissen gespielt, sondern lediglich mit Bewegung und Gestik auf leerer Bühne. Auf dieser ist links auf flach ansteigenden Rängen der Chor tätig; rechts das etwa 20-köpfige Orchester; dazwischen und davor steht für die Bewegung eine Spielfläche zur Verfügung, über die sich auch der Dirigent (Simon Rattle) bewegt, wenn er sich wechselweise den Solisten, dem Chor, dem Orchester oder auch allen zuwendet. Ob seine Bewegungen spontan oder von der Regie vorgesehen sind, lässt sich nicht eindeutig sagen. Dem etwa fünfzigköpfigen Chor ist der Großteil der Bewegung zugeordnet. Beim dramatischen Eingangschor „Herr, unser Herrscher!“ geht er zu Boden und bildet – einheitlich gewandet – eine schwarze wogende Masse mit hilfeheischender Gestik der Hände. Eindringlich und nachhaltig wirkungsvoll bleiben während des ganzen Abends Führung und Gestik des Chors, so dass von ihm immer wieder die stärksten Eindrücke ausgehen. Neben Musik und Text wird somit als dritte Dimension parallel die Bewegung eingeführt, aber auch ausdrucksstarke Nichtbewegung: Bei dem „Es ist vollbracht“ kauert der Chor kreisförmig um die zum Gambensolo klagende Mezzosopranistin. Als zum Schluss der Evangelist in der Mitte der Bühne in einem kleinen Lichtkegel inmitten des Dunkel bewegungslos kniet, nimmt die Vorstellung ein magisch-eindrückliches Ende.

Mark Padmore (Evangelist); Camilla Tilling (Sopranarien); Christian Gerhaher (Pilatus und Baritonarien)

Die halbszenische Variante befreit den Regisseur von der nicht einfachen Aufgabe, den Gesangssolisten eindeutige Personenrollen zuzuordnen. So bleibt es meist bei anonymen Arien, die lediglich durch die Stimmlage gekennzeichnet sind. Bezüglich der Zuordnung der Sänger zu Personen kann der Zuschauer seine Fantasie spielen lassen. Nur Christus und Pilatus sind fest zugeordnet, und gerade diesen beiden gelingen auch im Wechselspiel die stärksten szenischen Eindrücke. Rührend, wie Pilatus sich schützend vor Jesus stellt und das verhetzte Volk beruhigen will, damit kein Unrecht an ihm geschehe.

Dem aus den Berliner Philharmonikern gebildeten etwas über zwanzigköpfigen Instrumentalensemble ging es nicht um historisch informierte Aufführungspraxis, sondern es wurde perfekt mit modernen Instrumenten musiziert. Durch das Hervortreten der jeweils arienbegleitenden Instrumentalisten (Flöte, Oboe, Violine) zur Bühnenmitte wurde die musikalische Struktur stärker sichtbar gemacht. Mit dem Rundfunkchor Berlin (Einstudierung Simon Halsey) sang ein Chor der Ausnahmeklasse, wenngleich die Bewegungen hier und da zu Lasten der letzten Präzision gingen, was dem Ganzen eine leichte romantisierende Unschärfe verlieh. Wie bei allen Opern mit Chor liegt in Bewegung und Bewegungsrichtung des Chors auch immer zugleich auch ein rein akustisch-physikalisches Problem. Hier müssen immer Kompromisse zwischen Klangschärfe, Plastik und Bewegungsdynamik eingegangen werden. Klangschönheit und -Kraft sowie die Pianokultur des Berliner Chors schienen unübertrefflich. Besonders vorteilhaft an der Chorführung war deren relative Lautlosigkeit, was sicher Puristen unter den Anhängern der Kirchenmusik besonders zu schätzen wussten. Regie und musikalischer Leitung gelingt es, die dem Werk inhärente gewaltige Steigerung zu vermitteln. Mit dem „Ruht wohl, ihr heiligen Gebeine“ wird der erschütternde musikalische Höhepunkt erreicht. Wohl nirgends sonst in der Musik erzeugen drei absteigende Dreiklänge eine solche Wirkung wie hier, wo sie durch die vielfache Wiederholung bis zu einer hypnotischen Sogwirkung gelangen. Das gelang den Mitwirkenden an diesem Abend mit transzendentaler Schönheit.

Eine überwiegend glückliche Hand war mit der Auswahl der Solisten bewiesen worden. Natürlich sang Magdalena Kožená die Altpartie, die sie mit samtig-weicher Tiefe zu gestalten wusste. Camilla Tillings heller Sopran mit leicht tremolierender Härte in der Höhe gab dazu einen mehr als nur Tonlagenbegründeten Kontrast. Ob Frau Tilling bis in die letzten Winkel des Riesensaales vordrang? Topi Lehtipuu sang die Tenorarien; die Schärfe in seiner hohen Lage passte zu seiner Rolle auf der Bühne, wo er immer wieder Jesus misshandeln musste; hervorstechend seine leicht gängigen Koloraturen. Mit herrlichem dunklem, aber klarem Baritonmaterial von optimaler Textverständlichkeit gab Roderick Williams den Jesus; die darstellerisch schwierige Aufgabe, das Leiden Jesu zu spielen, bewältigte er mit großem Einsatz und steter Präsenz. Christian Gerhaher sang die Baritonpartie mit feinem Legato und phänomenal aussprachesicherer nuancierungsfähiger Stimme; sein elegantes Auftreten machte aus ihm zudem den idealen Pilatus; in der Rolle des Petrus hatte er nur dreimal zu leugnen. Mark Padmore war als Evangelist nicht nur neutraler Erzähler, sondern interagierte auch szenisch und gestisch mit seinen Mitspielern. Auch er verfügte über eine elegante Textverständlichkeit in allen Stimmlagen seines sehr wandlungsfähigen Tenors. Ebenso allgegenwärtig wie der Evangelist war der Dirigent Simon Rattle auf der Bühne, der sich von seinem zentral gelegenen Stützpunkt mit Pult und Partitur zu den einzelnen Gruppen bewegte und sie nicht nur zu leiten, sondern auch stets lächelnd zu motivieren schien.

Ovationen beendeten die beeindruckende Vorstellung.

Manfred Langer, 20.04.2014 Fotos: Monika Rittershaus