Besuchte Aufführung: 29.5.2015 (Premiere: 22.5.2015)
Unausgegorene Regie und szenische Brüche im Zirkusambiente
Vor einiger Zeit hat Rolando Villazón seinen ersten, bei rowohlt erschienenen Roman veröffentlicht: „Kunststücke“, in dem er die Geschichte des Clowns Macolieta erzählt, der abends in ein blaues Buch über sein sehr viel erfolgreicheres und angesehenes Alter Ego, den Clown Balancin, schreibt. Zunehmend vermischen sich die beiden Handlungsebenen, bis es Balancin schließlich gelingt, aus dem Buch heraus ins Dasein zu treten. Das Buch ist lesenswert und kann durchaus empfohlen werden.
Olga Peretyatko (Violetta), Balthasar-Neumann-Chor
Das Zirkusambiente seines Romans greift Villazón in seiner Neuinszenierung von Verdis „Traviata“ bei den diesjährigen Baden-Badener Pfingstfestspielen auf, wenn er das Geschehen kurzerhand in die Manege verlegt und aus Violetta eine Zirkusprinzessin macht. Kalman lässt grüßen. Es ist eine schillernde, übertrieben bunte und ziemlich schief gestaltete Welt, die Johannes Leiacker da auf die Bühne des Festspielhauses gestellt und mit einem recht abstrusen, bizarren Anstrich versehen hat. Das Extravagante des sehr opulenten Bühnenbildes setzt sich in den ansehnlichen Kostümen von Thibault Vancraenenbroeck fort. Dem Auge wird hier schon sehr viel geboten, gar keine Frage. Fast hat es den Anschein, als ob der blendende äußere Rahmen den Zuschauer für die insgesamt nicht gelungene Regie entschädigen solle.
Olga Peretyatko (Violetta), Susanne Preissler (Trapezkünstlerin)
Es ist kein Geheimnis, dass Villazón als Tenor in der letzten Zeit, verglichen mit früher, etwas nachgelassen hat. Das hat man erst neulich bei seinem Münchner Hoffmann wieder konstatieren müssen. Er ist nicht der erste Sänger, der sich aufgrund schwindender stimmlicher Fähigkeiten auf das Regie-Fach stürzt. Das geht mal mehr, mal weniger gut. Bei Villazón, der nach seinem Wildwest-„L’ elisir d’ amore“ bereits zum zweiten Mal in Baden-Baden inszeniert, trifft Letzteres zu. Von der Konzeption her sind ihm sicher einige treffliche Einfälle zu bescheinigen. So ist es durchaus legitim, die Handlung als Rückschau der im Sterben liegenden Traviata zu erzählen. Das ist indes nichts Neues mehr. Auch die psychologisch grundierte Idee, Violetta ein von Susanne Preissler hinreißend verkörpertes, am Trapez schwebendes Alter Ego zur Seite zu stellen, hat seine Berechtigung, wird dadurch einmal doch die Aufspaltung der Protagonistin in einen allen gehörenden Show-Star und eine nur Alfredo liebende Frau sinnfällig und zum anderen die Wirklichkeit von Violettas Todesstunde der surrealen Ebene des Traums gegenübergestellt. Noch vor dem Einsetzen der Musik wird Traviatas Reise in die Vergangenheit von einer winzigen Spieluhr in Gang gesetzt. Die Uhr als Symbol für die endende Lebensbahn der Protagonistin stellt eine gute Symbolik dar, ist aber von Willy Deckers Salzburger Produktion des Werkes von 2005, die Villazón ja gesungen hat, abgekupfert. Das sind allesamt akzeptable Ansatzpunkte, auch wenn sie zum Teil nicht mehr neu und damit wenig originell sind.
Olga Peretyatko (Violetta), Susanne Preissler (Trapezkünstlerin)
An der technischen Umsetzung hapert es allerdings. Man merkt, dass Villazón in puncto Regie kein Profi ist, sondern ein Quereinsteiger. Sicher kennt er das Stück gut. Schließlich hat er den Alfredo schon häufig gesungen. Das allein macht aber noch keinen guten Regisseur aus. Seine handwerklichen Fähigkeiten lassen zu wünschen übrig. Immer wieder neu gestartete Ansätze zur Verschmelzung der realen mit der fiktiven Ebene im Verhältnis zwischen der Traviata-Sängerin und ihrem Akrobatik-Double müssen im gut gemeinten Versuch stecken bleiben, weil sich Villazón unfähig zeigt, die Schnittstellen zu kitten. Vielfache Brüche sind die Folge. Die Kunst des Ineinanderverzahnens verschiedener Welten beherrschen andere Inszenatoren wahrlich besser als Villazón, bei dem es hinsichtlich der Personenregie manchmal auch noch zu erheblichen Längen und Leerläufen kam. Oftmaliges Rampensingen, insbesondere Violettas, führten zu gepflegter Langeweile. Auch bei der Zeichnung der Personen konnte er nicht immer überzeugen. Große Aufmerksamkeit schenkt er der Beziehung zwischen Traviata und dem gleichsam Mozarts „Don Giovanni“ entsprungenen, als grau gekleideter Commendatore erscheinenden gefühlskalten Giorgio Germont. Alfredo, dem man den feurigen Liebhaber hier nicht so recht abnimmt, wird von ihm sehr stiefmütterlich behandelt. Hatte Villazón damit womöglich eine Selbstreflexion im Sinn? Mag sein oder auch nicht. Das bleibt sein Geheimnis. Tatsache ist, dass man selten eine derart unausgegorene Alfredo-Figur erlebt hat wie an diesem Abend.
Atalla Ayan (Alfredo), Olga Peretyatko (Violetta)
Gesanglich sah die Sache erheblich besser aus. Trotz der oft fehlenden Unterstützung seitens der Regie machte Olga Peretyatko darstellerisch das Beste aus der Violetta, die sie emotional sehr aufgeladen verkörperte. Stimmlich bestach sie durch einen in allen Lagen gut fokussierten Sopran, der warm, nuancen- und farbenreich ist und obendrein eine gute Piano-Kultur aufweist. Ihre Höhepunkte hatte sie bei ihrem Duett mit Germont sowie bei dem betörend schön und gefühlvoll gesungenen „Addio del passato“ im dritten Akt. Bei dem Bravourstück des „Sempre libera“ wirkte sie indes noch zu kontrolliert und vermochte an dessen Ende nicht den Glanz zu entfalten, den man von anderen Sängerinnen an dieser Stelle gewohnt ist. Hier wirkte sie zu vorsichtig und zurückhaltend, was den Schluss zulässt, das die Traviata zu früh für sie kam. Atalla Ayan, den man aus Stuttgart gut kennt, gelang es nicht immer, das bereits geschilderte, nicht ihm, sondern dem Regisseur anzulastende Manko auszugleichen. Seine gesangliche Leistung war dagegen beachtlich. Er verfügt über einen gut verankerten, virilen lyrischen Tenor mit einer ansprechenden Farbenskala und trefflichem Differenzierungsvermögen – alles Voraussetzungen, um seinen Part eindrucksvoll zu bewältigen. Eine absolute Glanzleistung erbrachte der junge Simone Piazzola, der als Germont eher der Bruder als der Vater Alfredos war und an diesem Abend seine beiden Mistreiter in den Hauptpartien um einiges hinter sich zurückließ. Schon der vorbildliche tiefe Sitz seines überaus klangvollen, sonoren, und tragfähigen Pracht-Baritons vermochte sehr für sich einzunehmen. Auch was er in gestalterischer Hinsicht bot, war einfach sensationell. Brillant bewältigte er die breitesten Phrasen, bei denen andere Rollenkollegen oft eine Zäsur machen, auf einem langgezogenen, schier unendlichen Atem mit großer Sicherheit und wartete darüber hinaus noch mit wunderbar eindringlichen Phrasierungen auf. Legato und Linienführung waren phänomenal. Und das große Mitgefühl mit Violetta, das er beim Singen an den Tag legte, passte so gar nicht zu der regielichen Anlage von Alfredos Vater als gefühlskalter steinerner Gast. Lange hat man nicht mehr einen so phantastischen Germont gehört. Bravo! Vorbildlich sitzende, tiefgründige Mezzosopran-Stimmen brachten Christina Daletska und Deniz Uzun für die Flora und die Annina mit. Solide schnitt Emiliano Gonzales Toros Gaston ab. Durch die Bank ansprechende vokale Leistungen erbrachten Walter Fink (Dr. Grenvil), Tom Fox (Baron Duophol) und Konstantin Wolff (Marquis d’ Obigny). Sehr dünnstimmig präsentierte sich der Giuseppe von Hermann Oswald. Wie er gehörten die ebenfalls nur mittelmäßig singenden Stefan Geyer (Kommissionär) und Raimonds Spogis (Diener bei Flora) dem ordentlich intonierenden, von Detlef Bratschke einstudierten Balthasar-Neumann-Chores an.
Olga Peretyatko (Violetta)
Geradlinig und mit schöner Italianita lotete Pablo Heras-Casado zusammen mit dem gut gelaunten Orchester des Balthasar-Neumann-Ensembles Verdis herrliche Partitur aus. Da wurde sehr filigran und klangschön musiziert und mit langgezogenen Bögen aufgewartet. Dabei war die dynamische Skala seitens des Dirigenten manchmal etwas zu sehr heruntergeschraubt. So manche Stelle hätte er die Musiker doch etwas lauter spielen lassen können. Die Folge war eine sehr kammermusikalisch wirkende Ausdeutung, die mehr von Zurückhaltung als von vorwärtsdrängendem Elan geprägt war.
Fazit: Eine von der unausgegorenen, oberflächlichen Inszenierung her nicht zu empfehlende, von den musikalischen und gesanglichen Leistungen her aber durchaus lohnende Aufführung
Ludwig Steinbach, 30.5.2015
Die Bilder stammen von Andrea Kremper