Baden-Baden: „Skandal in Baden-Baden“

Musiktheater von Brecht, Hindemith und Weill

Vorstellung am 19.04.2014 (Karsamstag) (Premiere am 15.04.2014)

Festspiele von den zwanziger Jahren eingeholt: Musiktheater-Collage als Lehr- und Erbauungsstück

Im vorigen Jahr hatte man bei den Osterfestspielen Baden-Baden als zweite Musiktheater-Produktion und Schmankerl für das Stadttheater „Cendrillon“ von Pauline Viardot aufs Programm gesetzt. Da diese Sängerin einen Teil ihres Lebens in Baden-Baden verbracht hatte, war damit auch ein lokaler Bezug hergestellt. Der viel stärkere lokale Bezug der diesjährigen Produktion ersieht sich aus schon dem Titel „Skandal in Baden-Baden“. Die nach dem Ende des ersten Weltkriegs musik-kulturelle Vielfalt 1921 hatte zur Gründung der „Donaueschinger Kammermusikaufführungen zur Förderung zeitgenössischer Tonkunst“ geführt, noch heute als „Donaueschinger Musiktage“ bekannt. Wohl aus pekuniären Erwägungen und auf Betreiben von Paul Hindemith war das Festival 1927 nach Baden-Baden gezogen, wo es bei der Uraufführung von Brechts und Weills „Mahagonny Songspiel“ im gleichen Jahr zu Tumulten kam.

Catharina Kottmeier ("Zweier" in Lehrstück)

In der nun zu den Festspielen von Alexander Fahima bearbeiteten und inszenierten Collage „Skandal in Baden-Baden“ wird u.a. just dieses Songspiel neu vorgestellt, dessen Nummern später in Weills Oper „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ aufgingen, bei deren Uraufführung es 1930 in Leipzig zu Schlägereien kommen sollte. Gekuppelt mit diesem Songspiel wurde nun ein weiteres Stück Musiktheater, das in Baden-Baden 1929 uraufgeführt wurde: Brechts und Hindemiths „Lehrstück“ (ursprünglich: „Lehrstück vom Einverständnis“). Dessen experimentelle Form, die den Zuschauer stark mit in das Geschehen einbeziehen sollte, war als Beispiel einer neuen Theatergattung gedacht. Die Darstellung von Tod und Gewalt ließen die Uraufführung aber zu einem weiteren Skandal in der Schwarzwaldstadt werden. Was 1929 die Gemüter so erhitzte: eine brutale Szene mit Theo Lingen in der Hauptrolle. Zwei Clowns zerlegten einen dritten unter dem Vorwand zu helfen. Am Ende war das Opfer vollständig zerlegt und lag (theater-)blutüberströmt am Boden. Die Zuschauer zeigten sich schockiert; die Baden-Badener Verantwortlichen beendeten nach der Aufführung ihre Unterstützung für das Musikfestival. (In Baden-Baden wird diese Szene vor dem Theater als Prolog mit lapidaren Dialogen gespielt, als ob es ein Sketch von Loriot wäre, wozu die Blasmusik spielt – erst harmonisch und dann verzerrt.)

Für die neue Baden-Badener Produktion werden die beiden Stücke mit weiteren Zuspielungen versehen und im zweiten, dem Hindemith-Teil um andere Musiknummern des Komponisten ergänzt. Es kommt ein (immer noch) experimentelles Musiktheaterstück von etwas über 90 Minuten Länge heraus. Da diese Musiktheater-Collage nicht über eine durchgehende Handlung verfügt und da die heutigen Zuschauer mit Einzelheiten des politischen und kulturellen Hintergrunds der Zeit nicht mehr so vertraut sein können, wird der Zuschauer mit einer Mischung von Amüsement und Nachdenklichkeit in die 20er Jahre versetzt. Man nimmt die Musik auf und kann sich Gedanken über den Sinngehalt der verschiedenen verkündeten (Brechtschen) Weisheiten machen. Ein neuer Skandal in Baden-Baden wurde nicht ausgelöst.

Durchgängig kommt das Thema Individuum versus Kollektiv zur Diskussion. Das Thema ist schon in den Weill-Mahagonny-Songs enthalten. Im „Lehrstück“ kam Brecht auf sein episches Libretto über die erste erfolgreiche Atlantiküberfliegung („Der Lindberghflug“) zurück – Symbol für die Erhebung eines Einzelnen über die Gesellschaft durch Leistung. Da Brecht mittlerweile von den Sympathien Lindberghs für den Faschismus erfahren hatte, wurde sein neues „Lehrstück“ gleichzeitig zu einem Antistück. Nun scheitern die Überflieger nämlich, die Gesellschaft interessiert sich gar nicht für sie und hilft ihnen schon gar nicht. Wendigkeit des Stoffes? oder Wendigkeit des Autoren? Von „Kollektiven“ halten wir heute nicht mehr so viel…

Viel interessanter ist indes die eigenartige Botschaft einer kulturellen Streitkultur, die von dem Musiknachmittag ausgeht. Die Entstehungszeit der beiden Stücke liegt zwischen verlorenem Weltkrieg, aufziehendem Faschismus mit neuem Krieg und wirtschaftlicher Krise. Den Kulturschaffenden zwischen Tradition und Avantgarde gelang es nicht, sich auf nur irgendeinen gemeinsamen Nenner zu verständigen und sie stritten sich wie die Kesselflicker (zugegeben: der Streit hatte schon um die Jahrhundertwende angefangen). Parallelen zur Jetztzeit sind nicht naheliegend, aber auch nicht auszuschließen. Die oktroyierte Kulturpolitik der „Kollektive“ ist aber hüben wie drüben gescheitert. Man rennt den Individuen nach, aber deren Visionen scheinen nicht erkennbar. Waren sie das in den 20er Jahren – oder handelte es sich schon damals nur um alte Schäume?

Die Angabe über die Spieldauer des Werks lässt nicht erahnen, welch eine große Zahl von Mitwirkenden das Stück erfordert, so groß, dass sie in dieser Besprechung nur im Kollektiv genannt werden können. Da war zunächst das musikalische Herzstück, ein Ensemble aus Mitgliedern der Berliner Philharmoniker und Stipendiaten der Orchester-Akademie der Berliner Philharmoniker. Das war auf dem Drehteller des Theaters mitten auf der Bühne untergebracht, intonierte einen bissigen Kurt Weill und erzeugte mit mehr als 20 Ensemble-Mitgliedern im Hindemith-Teil einen recht süffigen Klang. Die musikalische Leitung hatte Stanley Dodds inne. Der führte schon im Prolog eine zehnköpfige Trachtenformation des Musikvereins Baden-Lichtenthal mit Holz und viel Blech. Im „Lehrstück“ kam dazu der klangschöne Chor des Collegium Musicum Baden-Baden musikalisch und szenisch zum Einsatz. Das Ensemble bestand aus sechs Sängern (handverlesen unter jungen Absolventen, Stipendiaten der „Akademie Musiktheater heute“ und Preisträgern) sowie acht Schauspielern, teilweise vom Ensemble des Theater Baden-Baden. Ein Bühnenbild wurde nicht benötigt. Auf einem vorderen Spielstreifen zwischen Orchester und Rampe hielt der vom Regisseur die Darsteller in ständiger, auch wuselnder Bewegung. Sie waren von Julia Schnittger in gelungene Kostüme der 20er Jahre gesteckt worden. An den Leistungen der Sänger und Schauspieler gab es nichts, aber auch gar nichts auszusetzen. Und sichtbar machte es denen mehr Spaß als den teilweise ratlosen Zuschauern.

Denn zurück in diese Zwanziger Jahre: „Die Vision von heute ist die Wirklichkeit von morgen“ heißt es im „Lehrstück“. Die heutige Realität hat Brechts damalige Visionen zum Glück wieder überholt. Ein nicht leicht verdauliches Stück, das keine Lösungsangebote für bestehende Probleme, aber immerhin etliche Denkanstöße liefert. Im Baden-Baden der Osterfestpiele, d.h. vom Publikum der Arrivierten erhielt es mehr als nur freundlichen Beifall, da es sich um einen durchaus interessanten unkonventionllen Beitrag handelt. Es steht beim koproduzierenden Theater Baden-Baden ab dem 30.04. bis zum 11.05.2014 zu normalen Stadttheaterpreisen auf dem Spielplan: theater.baden-baden/skandal-in-baden-baden/. Was wäre aber dann, wenn? Wenn nämlich beim der Menschenzerlegungsübung vor dem Theater nicht nur wie an diesem Karsamstag ein kalter Wind wehte, sondern auch noch kalter Regen niederprasselte?

Manfred Langer, 20.04.2014 Fotos: Jochen Klenk