München: „On the Town“

Premiere: 26.4.2019, besuchte Vorstellung: 4.5.2019

Die „Westside Story“ war nicht Leonard Bernsteins erstes Musical. Noch während des Krieges hatte er, basierend auf dem kurzen Tanzstück „Fancy Free“, einen damaligen Kassenschlager komponiert. Das Ballett fand nämlich eine Fortsetzung am Broadway. Wieder war der schließlich berühmt gewordene Choreograph Jerome Robbins im Boot, der auch das Szenarium zum Ballett geschrieben hatte. Man setzte sich noch einmal zusammen und entwickelte eine längere Variante des Matrosenstoffs: daraus wurde „On the town“, das 1944 in New York herauskam. Wieder wird das New Yorker Vergnügungsleben persifliert, aber was so leichtgewichtig und trivial daherkommt, erweist sich doch gerade in dem, was strenge Kritiker wie Bernsteins Mentor, der Dirigent Sergej Koussevitzky, monierten, als das eigentlich vitale Element: die äußerst unterhaltsame Musik, der die sogenannte „Tiefe“ durchaus nicht abgeht. Nur hat der Komponist sie an der Oberfläche versteckt… Im Übrigen musste sich „On the town“ unter anderem gegen das gleichzeitig angelaufene Musical „Oklahoma!“, einem absoluten Kassenschlager durchsetzen. Auch hier bemerkten die Kritiker das Neue. Gegenüber dem nun schon traditionellen Western-Stil, wie er in früheren Balletten Mode war, repräsentierte Bernsteins und Robbins‘ Musiktheater einen neuen Stil, eine neue Technik und ein neues Tempo. Man geht nicht zu weit, wenn man diesen „neuen Stil“ auf Bernsteins Vertrautheit mit der Klassik, der Klassischen Moderne und der besseren amerikanischen Unterhaltungsmusik zurück führt. Strawinsky-, Prokofjew- und sogar Kodaly- und Janacek-Anklänge und Gershwin-Rhythmen sind verwandter, als es ein Mann wie Koussevitzky wahrhaben wollte.

Wie schön, dass man Bernsteins frühes Werk wieder einmal auf eine Bühne brachte. In München feiert das Stück gerade Triumphe. Die Geschichte um die drei Matrosen, die sich während eines New Yorker 24-Stunden-Landgangs auf die Suche nach einem „Girl“, konkret: der Miss-U-Bahn des Monats machen (die übrigens damals wirklich gekürt wurde), um schließlich ein kurzes Glück für eine Nacht zu finden, mag Ende des Krieges aktuell gewesen sein; heute faszinieren allein die Musik, die Situationskomik (wenn ein in mühseliger Kleinarbeit rekonstruiertes Dinosaurierskelett dank eines tollpatschigen Matrosen zusammenbricht, haben wir es mit einer typischen Szene aus einer typischen Screwball-Comedy zu tun), die neue, auch klassische Elemente integrierende Choreographie Adam Coopers, die starken Darsteller und Tänzer, die zugleich Darsteller sind, die sich mit Verve in den latenten Unsinn schmeißen. Den Opernfreund und den aficionado des klassischen Musicals, das von Bernstein, Robbins und den beiden kongenialen Librettisten Betty Comden und Adolphe Green neuerfunden wurde, beglückt nicht zuletzt das wunderbare Sentiment. Wenn der liebessehnsüchtige Gabey inmitten der Meute der Großstadt seine Gefühle heraussingt, verstehen wir, wieso auch dieser Song keine Chance hatte, in die Verfilmung des Stücks aufgenommen zu werden.

Und wenn gleichzeitig acht Paare sich zärtlich in ihren Pas de deux‘ wiegen, kapieren wir, dass das Unterhaltungsstück doch ein wenig mehr ist als eine triviale, zeitbezogene Story von 1944, die die Zuschauer von den Sorgen des Krieges ablenken sollte. Der Regisseur Josef E. Köpplinger, der manchmal – vielleicht ein bisschen zu laut und zu chaotisch, aber so mögen sie sein: die besoffenen Matrosen auf Landgang -, auf Anflüge von Klamauk setzt, aber sonst die Waage zwischen Komödie und Gefühl gut hält, der Regisseur also hat mit einer einzigen Figur und ein paar zeitgenössischen Schwarzweißfilmen etwas Zeitloses in die Inszenierung gebracht: So, wie am Ende sich der wunderbar euphorische Song und Schlager des Musicals, „New York, New York“, mit dem nächsten Landgang der nächsten Matrosen wiederholt, so begegnet wieder die Figur der jungen Frau, die, mit dem Foto ihres Liebsten in der Hand, die neuankommenden Matrosen nach dessen Verbleib fragt.

Ansonsten haben wir es mit einem unkomplizierten, dank der von Rainer Sinell erdachten fantastischen Bühnentechnik mit ihren Projektionen und ihren Prospektverwandlungen mit steilen Ansichten der New Yorker Straßenkulissen (brillant: die U-Bahn-Szenen und die wilde Taxi-Fahrt) und der äußerst „zackigen“ Sänger/Darsteller, hochvirtuosen Abend zu tun, der zweieinhalb Stunden Stimmung macht, mag auch manch Witz, notwendigerweise, etwas verbraucht sein. Nichts gegen die Librettisten: Wenn als eine Art Running Gag eine Sekretärin mit ihrer Freundin, einer anderen Sekretärin, über ihre täglichen Nöten mit ihrem Chef plappert, ist das so witzig wie realistisch. Und wenn, wie in einem klassischen Rondo, eine Horde von Verfolgern der drei Kerle als Szenenbinder mehrmals quasi vor dem Vorhang über die Bühne wetzt, ist das an sich nicht mehr witzig, aber zusammen mit Bernsteins Musik versteht man – den Witz. Die Aufführung muss erst gar nicht so tun, dass es hier – wie gesagt: abgesehen von den wenigen zeitgenössischen Einsprengseln – um irgendwelche „kritischen“ Inhalte geht, wie sie inzwischen in vielen neueren Musicals üblich sind. Sie will (und kann) einfach nur, mit wenigen wenigen Bezügen zur dunklen Vergangenheit, also dem unmittelbaren Kontext der Entstehung des Werks, gut unterhalten; der Neonstreifen, der die Bühne umrahmt, weist schon in die richtige Richtung.

„Politisch korrekt ist es ja in keinem Fall“, meint eine amüsierte Zuschauerin in der Pause. Korrekt! Doch werden alle Witze von Anno Damals durch die musikalische und tänzerische Interpretation geadelt. Neben dem achtfachen Pas de deux gehört die Traumbegegnung zwischen der gesuchten und verehrten Miss U-Bahn, Ivy Smith, und dem Matrosen Gabey, dem lyrischen Tenor unter den drei Sängern, zu den emotionalen Höhepunkten der „Show“. Daniel Prohaska singt ihn, er singt ihn bewegend. Sein Traumgirl ist Julia Klotz, die nicht allein eine Madame de Tourvel zum Bühnenleben zu erwecken vermag (in den „Gefährlichen Liebschaften“ fiel mir diese herausragende Sängerin und Darstellerin zum ersten Mal auf). Großartig ist übrigens auch das „komische Paar“ No. 1: Mit „Carried away“ begegnen sich Chip (Boris Pfeifer) und Hildy Esterhazy (Sigrid Hauser) auf Augen- und Betthöhe: als höchst vitales Paar. Chapeau! Ozzy (Peter Lesiak) und die leicht durchgeknallte, latent nymphomane und nur scheinbar abgeklärte Claire de Loone (Bettina Mönch), die den Mann an sich mit dem Urmenschen vergleicht, um auf den Matrosen an sich zu stoßen, bilden die dritte durchaus tolle Paarbeziehung in diesem Terzett des politisch glücklicherweise unkorrekten Humors. Und wenn Sigrid Hauser „I’m blue“ singt, weiß man, dass am Gärtnerplatztheater nicht allein mehr oder weniger krachlederne Altistinnen, sondern großartige Künstlerinnen ihre Arbeit machen. Der Opernfreund wird spätestens, aber wirklich: allerspätestens, von Bernsteins Genie und der stupenden Qualität des Münchner Ensembles überzeugt, wenn er im zweiten Teil ein U-Bahn-Ensemble serviert bekommt, das sich hinter keinem Opern-Quartett verstecken muss – wohingegen das herzhafte „Do-Re-Do“, mit dem die im Gesangsstudio stehende Miss-U-Bahn alias Julia Klotz brilliert, an den Komponisten und die Librettisten des genialen „Candide“ erinnert, der vor ein paar Jahren am Gärtnerplatz eine erstklassige Interpretation fand.

Bleibt hinzuweisen auf einige weitere bemerkenswerte Darsteller im großen Ensemble: Dagmar Hellberg spielt mehrere „Neben“-Rollen – aber wie sie sie sophisticated spielt (und singt): die süffelnde Gesangslehrerin Madame Dilly, die kubanische Chanteuse Dolores Dolores (auch witzig: der bewusst schematische Umzug durch die New Yorker Clubs und Kneipen) etc. Katharina Lochmann, übrigens auch der Dance Captain der Compagnie, spielt die dauerniesende Lucy Schmeeler (Typ: hässliche Jungfer), die am Ende doch einen abbekommt: den grotesken Richter Pitkin W. Bridgework, der die Seitensprünge seiner angeblich frigiden Angetrauten Claire de Loone (was für ein Name!) immer „versteht“, bevor er endlich ausrastet. Alexander Franzen spielt diese Type so, dass der Zuschauer gar nicht anders kann, als den Unsinn komisch zu finden.

Nicht komisch, sondern vom ersten Takt an elegant, polyrhythmisch perfekt, melodisch einfach nur vollkommen: so agiert das Orchester des Theaters am Gärtnerplatz unter Michael Brandstätter. Voilà, ein Musical. Zugegeben: dramaturgisch eine Art Historienstück, aber mit dauerndem Abend ein immer spaßigeres und zuweilen tiefgehendes, technisch immer virtuoses, musikalisch höchst niveauvolles Vergnügen. Wie gesagt: Wie schön, dass man Bernsteins frühes Werk wieder einmal – und so auf eine Bühne brachte.

Frank Piontek, 6.5.2019

Fotos: ©Marie-Laure Briane