München: „Peter Grimes“

Premiere: 21.10.2014 im Prinzregententheater

Die Gesellschaft und der Außenseiter

Mit etwas Verspätung lieferte nun auch das Staatstheater am Gärtnerplatz seinen Beitrag zum Britten-Jahr 2013. Mit der Neuproduktion des „Peter Grimes“ im Prinzregententheater, einer seiner Ausweichspielstätten, konnte es zum Saisonauftakt einen in jeder Beziehung sensationellen Erfolg für sich verbuchen. Was an diesem gelungenen Abend über die Bühne ging, war atmosphärisch dicht gedrängtes, packendes und eindringliches Musiktheater auf hohem Niveau, mit dem das Gärtnerplatztheater wieder mal nachhaltig unter Beweis stellte, dass es längst nicht mehr nur das zweite Haus am Platz ist, sondern eine ernstzunehmende Konkurrenz zur Bayerischen Staatsoper darstellt. Das Prinzregententheater erwies sich dabei als idealer Spielort für das Werk.

Gerhard Siegel (Peter Grimes), Rafael Schütz (Boy)

Britten hatte seinen am 7. 6. 1945 im Sadler’s Wells Theatre, London uraufgeführten Opernerstling „Peter Grimes“ in den Jahren des Zweiten Weltkrieges, zuerst in New-York, später in England, geschrieben, wobei er George Crabbes Erzählung „The Borough“ als Ausgangspunkt nahm. Geschildert wird die Geschichte des Fischers Grimes, der wegen Mordes an seinem Lehrjungen William Spode, der auf See unter nicht geklärten Umständen ums Leben kam, angeklagt, aber mangels an Beweisen freigesprochen wird. Trotz nicht erwiesener Schuld verfällt Grimes der gesellschaftlichen Ächtung. Die Bewohner von Borough wenden sich von ihm ab und lassen ihn zu einem Außenseiter werden. Nur die verwitwete Lehrerin Ellen Orford und der ehemalige Kapitän Balstrode halten zu ihm. Als ein weiterer Lehrjunge von Grimes Spuren von Misshandlungen aufweist und ebenfalls umkommt, ist der Zorn der aufgebrachten Menge nicht mehr zu bändigen. Grimes bleibt auf Anraten seiner Freunde nur der Selbstmord. Es ist eine harte, bedrückende Geschichte, mit der Britten und sein Librettist Montagu Slater aufwarten, dabei aber gegenüber dem Original eine Umdeutung vornehmen. Bei Crabbe ist der Protagonist ein brutaler Wüstling, der seine jungen Lehrlinge so lange misshandelt, bis sie sterben. Der Tötungs-Aspekt ist bei Britten zumindest zweifelhaft. Ob Grimes sich des Mordes schuldig gemacht hat, bleibt in der Schwebe. Eher nicht. Komponist und Textdichter kommt es vielmehr darauf an, an der Figur des Peter Grimes aufzuzeigen, wie ein vielleicht zu Unrecht Verdächtigter von der ihn umgebenden Gesellschaft immer mehr ins Abseits gedrängt, ausgegrenzt und schließlich in den Freitod getrieben wird. Es findet eine Gewichtsverlagerung von individueller zu kollektiver Verantwortung statt. Das Ganze mutiert zu einer beklemmenden Gesellschafstragödie.

Edith Haller (Ellen Orford), Gerhard Siegel (Peter Grimes)

Hier setzt auch Balázs Kovalik mit seiner überzeugenden, handwerklich hervorragend gearbeiteten Inszenierung an. Er stellt Grimes als Täter und Opfer dar und zeigt ihn als pädophilen, der Gewalt durchaus nicht abgeneigten Rohling. Gleichzeitig liefert er in einem orchestralen Zwischenspiel des zweiten Aktes in psychologisch einfühlsamer Weise aber auch die Ursache für sein rabiates Wesen: Grimes litt in seiner Kindheit selbst unter brutalen Übergriffen seines Vaters. Die vielen Prügel, die er von ihm bezogen hat, dürften seinen Charakter nachhaltig geprägt haben. Gegenüber der lynchbereiten Hetzmasse, die von Mari Benedek mit transparenten Wettermänteln ausgestattet wurde, hat er keine Chance. Bei der Zeichnung der Dorfgemeinschaft setzt der Regisseur gekonnt auf Reduktion. Er verordnet ihr teilweise stilisierte Bewegungsmuster, lässt sie aber auch öfters lediglich herumstehen und wie einen altgriechischen Chor das Geschehen kalt und nüchtern analysieren. Fast hat es den Anschein, als ob Kovalik damit jedweder Emotion einen Riegel vorschieben wolle. Das Gegenteil ist indes der Fall. Die gesellschaftskritische Aussage des Stückes wird durch diese Vorgehensweise der Regie noch verstärkt. Nachhaltig geht Kovalik auf Distanz zu einem Kollektiv, das das einzelne Individuum aufgrund eines bloßen Verdachtes gnadenlos malträtiert und seelische an die Stelle von körperlicher Gewalt treten lässt, was mindestens genauso schlimm ist. Das wird insbesondere in der Szene offenkundig, in der die gegen Grimes opponierenden Bürger auf einmal, anstatt ihn physisch anzugreifen, im militanten Gleichschritt die Bühne verlassen. Wenn der Regisseur dem Chor gleichzeitig leichte Züge eines NS-Mobs verleiht, ist das durchaus stimmig. Toleranz wird in dem kleinen Fischerdorf Borough genauso klein geschrieben wie unter den bornierten braunen Machthabern. Kovaliks Plädoyer für Liberalität und Menschlichkeit auch gegenüber fragwürdigen Zeitgenossen wird deutlich. Ob seine Aufforderung, mit den Randfiguren unserer modernen Gesellschaft tolerant umzugehen, Gehör finden wird?

Gerhard Siegel (Peter Grimes), Edith Haller (Ellen Orford)

Insgesamt setzt er bei seiner textnahen Regiearbeit nicht auf die Holzhammermethode, was sicher auch eine Möglichkeit gewesen wäre, sondern gibt dezenten Andeutungen den Vorzug. Der Regisseur bevormundet das Publikum nicht, sondern gibt ihm viel Freiraum für eigene Assoziationen. Vielfach wird ein Aspekt nur kurz berührt und es dem Zuschauer überlassen, den aufgeworfenen Gedanken weiterzuspinnen oder auch nicht. Dass Vieles nicht konkret ausgesprochen, sondern nur als Option in den Raum gestellt wird, gibt der Inszenierung einen recht subtilen Anstrich. Zum größten Teil setzt Kovalik auf eine ausgefeilte, stringente Personenregie, vertraut andererseits aber auch oft nur auf die Wirksamkeit des Raumes. Csaba Antal hat ihm einen Stahlcontainer auf die Bühne gestellt, der im Lauf des Abends mannigfaltigen Wandlungen unterworfen ist. Er stellt gleichermaßen eine Lagerhalle dar wie auch den Pub und die Kirche. Nicht immer geht es dabei konkret zu. Es ist eine eindrucksvolle Gratwanderung zwischen Wirklichkeit und Surrealität, die hier vollzogen wird. Zwei Kranstege schweben wiederholt rechts und links in luftiger Höhe herein, um den Beteiligten als zusätzliche, im wahrsten Sinn des Wortes abgehobene Spielfläche zu dienen. Ein ebenfalls in der Luft schwebendes Segel aus Plastikfolie, das manchmal in heftige Wallungen gerät, kann man rein äußerlich als Manifestation des wild bewegten Meeres ansehen. Gleichzeitig symbolisiert es aber von der seelischen Warte aus die immensen Gefühlsstürme der Handlungsträger. Einmal hüllt es Grimes ein und schützt ihn so vor dem Hass seiner Mitmenschen, wenn auch nicht allzu lange. Eine gelungene Symbolik. Hier zeigt sich, dass es Kovalik und seinem Bühnenbildner um eine Interpretation von innen heraus geht. Auf letztlich belanglose Äußerlichkeiten legen sie keinen Wert und legen den Focus gekonnt auf die Psyche der Figuren und die zwischenmenschlichen Beziehungen. Gerade dadurch erlangt die Produktion auch eine immense innere Spannung und trifft den Kern der tragischen Handlung punktgenau. Die ästhetische variable Beleuchtung von Michael Heidinger tut ein Übriges, um den Gesamteindruck der Produktion vortrefflich wirken zu lassen. Allgemein ist zu konstatieren, dass dem Regieteam durchweg erstklassige szenische und bildnerische Lösungen in einem modernen Ambiente gelungen sind, an deren Ende die Erlösung steht: Gemeinsam sehen Grimes und sein Lehrjunge in ihrem stilisierten weißen Segelboot bereitwillig dem Tod entgegen.

Gerhard Siegel (Peter Grimes), Rafael Schütz (Boy)

Bis auf wenige leichte Wackelkontakte, die wohl der Premierennervösität zu verdanken sind, spielte auch das Orchester unter Marco Comin exzellent. Da wurde mit einer enormen Intensität und Ausdrucksdichte musiziert. Es war eine harte, schroffe Sichtweise, die der Dirigent da an den Tag legte, gleichzeitig aber auch die Einflüsse Debussys und Verdis auf die Partitur betonte. Daraus resultierte ein spannungsgeladener, vielschichtiger und farbenreicher, insgesamt dunkel getönter Klangteppich von großer Brillanz.

Edith Haller (Ellen Orford), Ashley Holland (Balstrode)

Und was für ein prächtiges Sängerensemble hatte das Gärtnerplatztheater auch dieses Mal wieder aufgeboten. Da hatte so mancher Staatsopernniveau. Das begann schon bei Gerhard Siegel, der bereits rein darstellerisch eine hervorragende Besetzung für den Peter Grimes abgab. Fast schon manisch muteten seine immer von neuem gestarteten Versuche an, die Gesellschaft von seiner Unschuld am Tod des Jungen zu überzeugen. Das Getriebene und Zwanghafte des zweifelhaften Titelhelden wurde von ihm trefflich vermittelt, auch gesanglich. Er verfügt über einen gut sitzenden, kräftigen Tenor, mit dem er sowohl die dramatischen Passagen der Partie als auch deren mehr lyrische Ergüsse aufs Beste bewältigte. Sein wunderbar feinfühlig und verhalten gesungenes „Now the Great Bear and Pleiades“ war ein Höhepunkt des Abends. Edith Haller machte die große Zuneigung der Ellen Orford zu dem Verfolgten schauspielerisch mehr als glaubhaft. Auch stimmlich vermochte sie mit ihrem klaren, höhensicheren und bestens fokussierten jugendlich-dramatischen Sopran, der zu vielfältigen Nuancen und Schattierungen fähig ist und sehr emotional geführt wurde, zu begeistern. Kein Wunder, dass sie am Ende den meisten Applaus erntete. Ein äußerlich unbeteiligter und das Geschehen eher analytisch beobachtender als aktiv eingreifender Kapitän Balstrode war der markant singende Ashley Holland. Tadelloses, gut gestütztes Bassmaterial brachte Holger Ohlmann für den Ned Keane mit. Übertroffen wurde er von dem mit hoher klangvoller Sonorität seines Basses singenden István Kovács in der Rolle des Swallow. Eine hübsch anzusehende und mit tiefgründigem, sauber verankertem Mezzosopran auch hochkarätig singende Mrs. Sedley war Ann-Katrin Naidu. Snejinka Avramova vermochte als Wirtin Auntie mit trefflicher Stimmführung und prägnantem Spiel ebenfalls für sich einzunehmen. Von ihren Nichten gefiel Elaine Ortiz-Arandes besser als die nicht sonderlich gut im Körper singende Frances Lucey. Letzteres gilt in gleicher Weise für den dünnstimmigen Bob Foles von Juan Carlos Falcon. Solide waren Martin Hausberg (Fuhrmann Hobson), Stefan Thomas (Reverend Adams) und Enrico Sartori (Dr. Crabbe). Ein Extralob gebührt dem jungen Rafael Schütz in der stummen Rolle von Grimes’ Lehrbuben Boy (John). Auf hohem Niveau bewegte sich der von Jörn Hinnerk Andresen hervorragend einstudierte Chor.

Fazit: Nach der „Aida“ in der vergangenen Saison ist dem Gärtnerplatztheater auch jetzt wieder eine in jeder Beziehung gelungene Produktion gelungen, die ihm als Aushängeschild dienen kann und deren Besuch sehr zu empfehlen ist. Herzliche Gratulation an die Theaterleitung zu diesem fulminanten Start in die neue Spielzeit.

Ludwig Steinbach, 23. 10. 2014

Die Bilder stammen von Thomas Dashuber