München: „Priscilla – Königin der Wüste“

Premiere: 14.12.2017. Besuchte Vorstellung: 16.12.2017

Dass irgendwann einer der drei Hauptdarsteller – also der „Ladies“ – im Karaokeverfahren die Traviata mimt, ist ja noch kein Grund, als Opernfreund die Vorstellung des Musicals „Priscilla – Königin der Wüste“ zu besuchen und richtig richtig gut zu finden. Er steckt woanders: in der ungeheuer lustvollen und gelind tiefsinnigen Show, die die Rezensenten zurecht jubeln ließ. Klaus Kalchschmid, der Kollege der SZ, schrieb euphorisch, dass „diese erste Musical-Produktion des Gärtnerplatztheaters in seinem neuen alten Stammhaus das Zeug dazu hat, selbst Kult zu werden“. Recht hat er – denn was im jüngst wiedereröffneten Haus geboten wird, ist allerbeste Unterhaltung.

Es begann, vor gut 20 Jahren, mit einem Film – einem australischen Film, der mit Terence Stamp und Hugo Weaver (dem Elrond der grandiosen „Lord of the Ring“-Verfilmung) edel besetzt war. Priscilla, so heißt keine Frau, oder doch: ein altes Mädchen von Bus. Mit dem nämlich fährt das Terzett der drei „Ladies“ Tick, Bernadette und Adam von der Küste hinein in die Tiefe des Kontinents. Stephen Eliott und Allan Scott haben – nun in der Bühnenversion des Simon Philipps – mit den drei Helden drei charakterlich und sexuell stark unterschiedlich Figuren entworfen: Tick ist oder war einmal bisexuell, nun fährt er, animiert von seiner Exfrau, ins Herz des Kontinents, damit auch zu seinem eigenen, denn in der kleinen Stadt mit dem Casino und seiner Bühne wartet sein achtjähriger Sohn auf ihn, der (noch) nicht weiß, dass Daddy eine Drag Queen ist. Bernadette ist die „gesetztere“ des Trios: ehemals ein Mann, nun, nach einer irreversiblen Operation, eine Frau – und Adam, der jüngste und testosterongesteuertste der drei Queens, ist ein wilder junger Mann, zynisch und unverschämt, humoristisch und showmäßig höchst talentiert, der oft seine Grenzen überschreitet – um mit der tätigen Hilfe der zwei Mitreisenden und -künstler so etwas wie zu sich selbst zu finden.

Im Grunde sind sie, im Hinterland des Riesenlandes, alle auf der Suche nach ihrem Herz – um es am Ende, auf sehr verschiedene Weise, zu finden: Tick trifft seinen Sohn, der – anders, als es der unsichere Vater befürchtet hat, überhaupt nichts dabei findet, dass sich sein Vater in weibliche Klamotten wirft und die künstlichen Wimpern klimpern lässt – Bernadette findet, nach dem Tod ihres Lebensgefährten, eine neue Liebe im ehrlichen Mechaniker Bill, der spät, doch nicht zu spät, im einstigen Mann seine romantische Liebe entdeckt – und Adam erfüllt sich auf der Höhe des Ayers Rock einen Lebenstraum: „Einmal im Fummel am Himmel mit ’nem Pimmel“ Die Szene gehört denn auch, zusammen mit den vielen anderen wunderbaren Showacts, zu den eindrücklichsten Szenen des kurzweiligen Abends.

Mag sein, dass Philipps gegenüber dem schönen Film das psychologische Element verstärkt hat, indem er die Geschichte Ticks ein wenig klarer herausgearbeitet hat; aber schon Hugo Weaving war ein hervorragender Interpret dieser Rolle. Das Bemerkenswerte dieses Stücks, das in München – nach der australischen Premiere im Jahre 2006 – seine heftig bejubelte deutsche Erstaufführung erlebte, besteht darin, dass das soziale Anliegen mit den Unterhaltungseffekten ineins geht. Will sagen: Indem die „Ladies“ eine große Show machen und die Produktion den wunderbar kitschigen, also nicht nur gut gemeinten, sondern auch gut gemachten Flitter krachen lässt, werben sie besser und intensiver um Toleranz für jene Individuen, die für nicht wenige Mitglieder der sog. Bürgerlichen Gesellschaft vermutlich immer noch „abartig“ sind. „Auch bei uns“, sagt der Regisseur Gil Mehmert, „gibt es Ausgrenzung. Um das zu erleben, bräuchten drei Drag Queens nur von München aus hinaus aufs Land fahren.“ Das Musical zeigt, natürlich, einige bedrohliche Situationen, Adam wird fast vergewaltigt, bevor Bernadette den jungen Mann beherzt rettet, die Akzeptanzschwelle auch der freundlichen Dorfbewohner ist nicht gar so niedrig, doch am Ende siegt das einzig Wahre. „Together“, darum geht’s, es scheint das Leitmotiv des Abends zu sein.

Drag Queens pflegen selten selbst zu singen – hier karaokisieren sie nur aus Spaß. Ansonsten bieten Armin Kahl als nüchtern-sensibler Tick, Erwin Windegger als reizend-stilvolle, auch melancholische und gelind bissige Bernadette und Terry Alfaro als ungebändigter Adam guten Gesang, ernstzunehmendes Spiel, das den leicht holzschnitthaften Konventionen des Musicals gehorcht, weil Musical eben nun mal Musical und nicht Schauspiel mit Musik ist, und hinreißende Tanznummern, auch mal eine Tina-Turner-Parodie in herrlichem Fummel (Alfred Mayerhofer). Ihnen zur Seite, manchmal auch ihnen zu Köpfen auf der von Jens Kilian exzellent gebauten Bühne mit seinem offenen Riesenbus, stehen und tanzen die „drei Diven“, die erfreulicherweise nicht wie drei magere Balletttänzerinnen aussehen, sondern – jawoll, meine Herren – sehr gut gebaut sind und ihrerseits eine schöne Show machen. Ein lautes Bravi für Dorina Garuci, Jessica Kessler und Amber Schoop, nicht nur für ihre pinkfarbene Bus-Pinselnummer. Dabei sind die drei Ladies, wenn sie ihre tollen Nummern über die Bühne rocken, selbst höchst überzeugende Diven: Göttinnen des ehrlichen, weil hervorragend gemachten Showbiz. Unglaublich gut: die Shownummer der betont „lasziven“ und herrlich verrückten Philippina Cynthia alias Marides Lazo, die den Auftritt der drei Ladies erfolgreich sabotiert.

Und was singen sie? Nichts „Originales“, oder doch nichts, was eigens für diesen Abend geschrieben worden wäre: Pop- und Disco-Schlager meist der 70er und 80er Jahre, unter denen „I will survive“ aus inhaltlichen und melodischen zweifellos herausragt. Ein Höhepunkt des Films und nun ein Glanzpunkt der Inszenierung: wenn die drei Ladies im staubigsten Outback stranden und vor einer Gruppe von Touristen und mit der Hilfe eines Didgereedoo-Spielers – eines gleichsam „falschen“ Aborigines – eine Karaoke-Version des Schlagers ans Lagerfeuer zaubern, dass auch das Münchner Haus zum Kochen bringt. Wir hören also Songs, die in dieser Choreographie und in den Arrangements von Stephen „Spud“ Murphy und Charlie Hull wie die selbstverständlichen Teile eines integralen Musiktheaterabends wirken – und ihn schließlich zu einem völlig stimmigen machen.

Damit reiht sich „Priscilla“ in die lange Reihe jener populären Opern ein, die als Pasticcios seit jeher zusammengestoppelt wurden. Zum Gelingen des Abends trägt das kleine und sehr feine Orchester unter der Leitung Jeff Frohners bei, auch die Choreographien Melissa Kings, die mit einem Coup de theatre den Abend einläutet: Zu Paul Shaffers „It’s raining men“ schweben, das gibt den ersten Szenenbeifall, sieben Jungs vor den drei Diven mit den herrlichen Riesenflügeln von sehr weit oben auf die Bühne, bevor sie sich entblättern und „Miss Verständnis“ (Eric Rentmeister), versehen mit einem echt burlesquen Kopfaufbau, in die Welt des „Cockatoo“-Clubs einführt. Zwischendurch gibt’s „Les Girls“ zu sehen, eine gemischte Truppe, zu der Bernadette einst gehörte (und woran sich Bill noch nach Jahrzehnten erinnert), sehr stilvoll, sehr schick, zu der, auch dies eher nostalgisch als 80er Jahre, Jerome Kerns „A fine romance“ angestimmt wird. Grandios auch die Casinoshow der drei „Ladies“, die wir, pardon, nur von hinten und im Schnelldurchlauf mit blitzschnellen Umzügen sehen: ein einfacher, aber wirksamer Vertauschungstrick. Schließlich aber tanzen die drei Herren als Damen den vorerst letzten Tanz auf dem Ayers Rock. Das Publikum ist aus dem Häuschen und erklatscht sich eine Zugabe. „Mehr Spaß geht nicht“, titelte eine Münchner Zeitung. Der Abend hat auch ernste Aspekte, aber im Grunde stimmt’s: selbst wenn man nicht während einer Countrydancenummer auf die Bühne gebeten wird.

Ist das nun Kitsch oder Kult? Mindestens!

Frank Piontek, 19.12. 2017

Fotos: ©Marie-Laure Briane