München: „Gefährliche Liebschaften“

15.5. 2016, Premiere 22.2.15

Für Musical-, Theater- und Opernfreunde: Eine perfekte Aufführung

Vögeln tun sie schon im Vorspiel. Das heißt: es bleibt nicht beim Vorspiel, auch wenn das Vorspiel eines ist. Es kommt, sozusagen, schon während der Ouvertüre zum Vollzug – immer wieder, denn Sex (nicht Erotik, kaum Liebe) ist das Thema des Stücks. Gefährliche Liebschaften, also das Musical nach dem Roman Liaisons dangereuses des genialen Choderlos de Laclos, geht nicht zimperlich vor.

Der revolutionäre Autor beschrieb ein knappes Jahrzehnt vor jenem Ereignis, das das Vorspiel des Romans schon ahnen ließ (denn soviel seelische Verrohung musste einfach irgendwann im Blutbad der Empörung von 1789 enden), die amoralischen Triebe jener Aristokraten, die keine politische Bedeutung, aber sehr viel Zeit hatten, sich zu „vergnügen“. Gemäß dem anarchischen Motto: Nach uns die Sintflut. Am Ende des Romans (und des berühmten Films mit Glenn Close, John Malkovich und einer entzückend bemitleidenswerten Michelle Pfeiffer) und des Musicals liegen drei Tote auf der Bühne: der Vicomte de Valmont, den es im Duell erwischte, die Präsidentin, Madame de Tourvel, die sich aus Liebeskummer umbrachte, und die Marquise de Merteuil, die im Finale gesellschaftlich geächtet, also ethisch getötet wird. Der Roman schildert noch ihren völligen körperlichen Verfall und ihre Flucht in die Niederlande; das Musical endet mit einem jener grandiosen Tableaus, die die absolut packende Aufführung des Theaters am Gärtnerplatz im Cuviéllestheater neben den Einzelleistungen auszeichnen. Da versucht die raffinierte, aber entlarvte Frau dem Raum zu entkommen, in dem sie so lange die Fäden zog. Am Ende bleibt ihr nur der Gang in das Licht, das hinter der nackten Wand durch die Tür der Hinterbühne fällt. Es wird im Dunkel enden.

Irgendwann fällt auch das Licht der Bühne (die von Michael Heidinger und dem Regisseur Joseph E. Köpplinger erstklassig, also mit punktgenauen Akzenten ausgeleuchtet wird) auf den Scheitel des 1755 gebauten Bühnenbogens. 1755 konnten die Genien noch lächeln. Am Ende des ersten Akts, wenn der siegessichere Vicomte seine Gottähnlichkeit herausposaunt, wird gar das Licht im Zuschauerraum leicht nach oben gedimmt: Così fan tutte, möchte man allen Frauen im ausverkauften Theater zurufen – aber wer wäre schon so dumm, auf einen aalglatten Verführer wie den Vicomte de Valmont hereinzufallen? Auf einen Mann, der, modern gedeutet, unter dem Don-Juan-Syndrom leidet?

Es sind genug. Am Schlimmsten trifft es die Madame de Tourvel, die – aufgrund einer teuflischen Wette – nicht nur dem Vicomte, auch der Marquise zum Opfer fällt. Schwer zu sagen, wer hier mehr Schuld gegenüber der gequälten Frau auf sich geladen hat: die nur scheinbar emanzipierte, doch tief in ihren Abneigungen und ihrer menschenfeindlichen „Vernunft“ befangene Marquise, die nur zum Vicomte ein kaum erklärbares Zutrauen gefunden hat? Oder der Vicomte, der die Frau, die er tief in seinem Innersten im klassisch-romantischen Sinne zu lieben scheint, vor aller Welt entehrt und in den Suizid jagt – wissend, aber auch zugleich unwissend, dass er damit auch sein besseres Ich getötet hat? Laclos hat diese komplizierten und nüchtern problematisierten Beziehungen, die den Roman aus einer Vielzahl amouröser Romane des 18. Jahrhunderts weit herausragen lassen, in 175. Briefen beschrieben. Es ist schon eine Meisterleistung des Autors Wolfgang Adenberg und des Musikers Marc Schubring, die Handlung von 450 Seiten in ein Musical von zwei Stunden 20 Minuten Länge zu pressen, wobei sprachliche Feinheiten natürlich auf der Strecke bleiben müssen, natürlich auch manch psychologische Verästelung. Das Ergebnis aber ist schwer beeindruckend, und dies auch, weil sich die musikalische und dramaturgische Ästhetik dieses Werks auf die Terrains der Oper und der Filmmusik begibt.

Marc Schubring schrieb eine Musik, die einerseits herkömmliche Musical-Muster bedient und andererseits im Orchestersatz an die Klassische Moderne der Wiener Schule erinnert. Die 20 Musiker haben im Graben enorm viel zu tun: sie haben, um es anekdotisch auszudrücken, gemäß der sehr genauen und einfallsreichen Orchestration von Frank Hollmann, viele, doch nicht zu viele Noten zu spielen. Sie bedienen keinen durchschnittlichen Musical-Geschmack – was angesichts des Stoffs auch kaum möglich ist -, sondern setzen auf schroffe Akzente. Wenn der Vicomte der Madame de Tourvel seine „Liebe“ beschwört, dröhnt es dissonant aus dem Graben heraus. Klar – denn diese „Liebe“ steht ja nur in Gänsefüßchen. „Die Musik“, sagt der Komponist, „startet als Parfüm, als Farbe, als etwas Unaufdringliches, sogar Angenehmes, und dieses Angenehme wird langsam zu Gift, wird bissig und aggressiv, bis man zum Schluss gar nicht mehr weiß, ob das Angenehme das Gift oder das Gift das Angenehme ist.“ Dass in dieser Dreieckstragödie und -Schmierenkomödie immer wieder gleiche einfache Motive im Dreivierteltakt oder mit drei Noten, sogar das einfache wie spannungsgeladene „James-Bond-Thema“ erklingt, ist Programm. Man müsste den Posaunisten, das Horn und die Holzbläser nennen, die zusammen mit den Streichern und dem Schlagwerk (in der rechten Proszeniumsloge) unter Andreas Kowalewitz einen ungewöhnlich farbigen Orchesterklang produzieren. Wunderbar das Agnus dei der Nonnen, die angesichts der sterbenden Madame de Tourvel einen schönen geistlichen Gesang anstimmen, zu dem ein zarter Streichersatz, manchmal mit Unterstützung der Holzbläser, erklingt. Der Chor gibt bisweilen auch, wenn’s zwischen den Bettdecken richtig „heiß“ wird, seine Kommentare ab: in Form von Vokalisen auf den Vokal „a“, was irgendwo zwischen einem Lust- und einem Schmerzenslaut changiert. Mit einem Wort: einfach intelligent.

Der Zuschauer und -hörer muss sich wirklich nicht darüber wundern, dass diese Produktion gleich fünf Preise einheimste: u.a fürs beste Musical, die beste Musik, die beste Darstellerin – die bezaubernde Julia Klotz als Madame de Tourvel. Es schier unglaublich, mit welcher Sensibilität sie die verführte Unschuld spielt und kraftvoll singt: bis zum totalen und bewegenden Zusammenbruch. „Ich habe stets nur eine innere Wahrheit“ singt sie – aber dies singt sie nicht verschämt, sondern selbstsicher heraus, während gleichzeitig eine weitere Sexszene die Aufmerksamkeit ablenken will: aber es gelingt natürlich nicht. Was für eine einfache wie grandiose Dramaturgie!

Gerade an dieser wichtigen Partie kann man die Dignität dieser Musical-Produktion festmachen, denn im Grunde handelt es sich um ein durchkomponiertes Schauspiel mit opernhaft durchwürzter Musical-Tönung. Als solches aber funktioniert es „nur“, weil alles zusammenstimmt: der Sound, das Drama, die Dialoge, die – pardon – Höhepunkte, die Chorszenen, die Bilder. Nein, man braucht hier keine üppige Pseudo-Rokoko-Ausstattung. Es genügen: eine Brücke mit Rokoko-Bändern, eine fleißig in Einsatz gebrachte Drehbühne, sehr schnelle Wechsel zwischen den Szenen, ein Tisch, manchmal ein Cembalo und, für Cécile de Volanges‘ Musikstunden, eine Harfe – und ein Deckenspiegel, der uns eine Perspektive auf die Bühne gibt, die die Möglichkeiten der Spiegelung wunderbar nutzt.

Über den Cast ist insgesamt nur eines zu sagen: das Stück wurde perfekt besetzt – von den Hauptrollen über die beiden mittleren weiblichen Partien bis zu den „kleinen“ Rollen. Carin Filipčić ist eine durchaus charismatische Madame de Volanges: eine souveräne Dame der Gesellschaft, bei der nicht nur die Perücke gut sitzt (ein Superlob für die Direktion Kostüm/Maske: Inge Schäffner, auch für den Kostümgestalter Alfred Mayerhofer). Gisela Ehrensperger ist die alte Madame de Rosemonde, die Vertraute der Madame de Volanges, die gar nicht viel tun muss, um zu wirken. Das Ensemble der Damen und Huren (unter ihnen Nazide Aylin als Émile, die Cécile zusammen mit dem Vicomte in die Freuden eines flotten Dreiers einweiht), der wenigen Herren und vielen Kammerdiener (unter ihnen Erwin Windegger als Azolan, Valmontes Diener) und Zofen, wird – gleichsam als weibliches wie aggressives Gegengewicht zur „schwachen“ Madame de Tourvel – dominiert von Anna Montanaro alias Marquise de Merteuil. „Liebe macht uns schwach“, so singt sie in einer wahrhaft „großen Arie“ ihre Philosophie stimmstark und beifalllprovozierend heraus.

Und der Vicomte? Armin Kahl spielt den skrupellosen Verführer so prägnant, dass wir ihn einfach hassen müssen – und wenn er plötzlich umzuschwenken scheint, begreifen wir ihn schon angesichts der bezaubernden Madame de Tourvel so sehr, dass seine wahren Beweggründe spätestens dann, wenn er vor den Forderungen der Merteuil windelweich wird, derart unklar werden, dass die Geheimnisse, die de Laclos seiner Figur mitgab, auch hier nicht gelüftet werden. Der Don-Juan-Typ bleibt eine gespaltene Persönlichkeit. Auch dies macht aus dem Stück ein sehr besonderes und aus der Interpretation durch Armin Kahl eine extrem spannende (und singen kann er wie alle: makellos).

Erstklassig auch die Cécile de Volanges der Anja Haeseli: es hat Klasse, wie sicher die „Kleine“ sich von einer unbefangenen Göre zu einer durchtriebenen Verführerin entwickelt. Den Schaden hat der gute Chevalier de Danceny (gespielt vom guten Florian Peters), der zum Opfer seiner eigenen, angeblich „reinen“ Liebesideologie wird: so viel Naivität muss einfach bestraft werden; kein Wunder, dass am Ende das gleichsam lernfähige Mädchen den reichen Grafen und nicht den armen Schwärmer heiratet (der übrigens – was für ein Witz – in dieser Musiktheaterproduktion ein Musiker ist und zum Opfer der Merteil wird: auch in ihrem Bett).

Und so spielen sie alle ihr Spiel, bis am Ende die Wirklichkeit des Winters in die Welt des Scheins einbricht, dem doch so viele zum Opfer fallen. Es beginnt, wie früher in jeder zweiten Tannhäuser-Inszenierung, am Ende zu schneien, die Präsidentin stirbt – nicht, ohne ihrem seelischen Mörder vergeben zu haben, der Verführer wird erstochen, die Marquise geächtet. Alles gut? Gewiss nicht – aber die bejubelte Produktion zeigt, was ein gutes Musical heute sein kann: ein thematisch anspruchsvolles und musikalisch differenziertes Werk, das die meisten Besucher jubeln lässt. Mit wenigen Ausnahmen: Dass in der Pause ein paar Besucher den Saal verließen, mochte auf die Sex-Szenen zurückgehen. Dass „die Münchner“ so gschamig sind, hätte ich allerdings nicht gedacht. Zu de Laclos‘ Zeiten wären diese Abgänge vielleicht nicht passiert – nicht einmal im Hoftheater.

Auch wenn damals vermutlich weniger auf der Bühne scheingevögelt wurde als heute.

Ps: Einen guten Eindruck der exzellenten Produktion erhält man mit diesen beiden Trailern: Trailer 1 / Trailer 2

Fotos: Thomas Dashuber

Frank Piontek, 17.5. 2016