München: „Wiener Blut“

Premiere: 26.11. 2014. Besuchte Vorstellung: 15.10. 2021

Was verlangt der Operettenfreund von einer Operettenaufführung? Charme, Poesie (natürlich auch Witz), gute Stimmen und ein ebensolches Orchester sowie eine sog. „ansprechende“ Bühne. Wirklichkeit wurde diese billige Forderung spätestens in jenem Moment, in dem sich Graf und Gräfin Zedlau auf die (Liebes-)Schaukel begaben – und jenes Walzerlied sangen, dass durch den Titel der Operette und des Walzers unsterblich und weltbekannt wurde: „Wiener Blut“. Denn ist es nicht bezaubernd, wie sich der Graf in seine eigene Frau verliebt und der zarte und doch leicht anzügliche Walzertakt den Rhythmus so zum Spiel gibt wie die Schaukel?

Dass man an diesem Abend – wohl auch aufgrund des meist allzu offenen Bühnenbilds – nicht jedes Wort versteht, verschlägt nichts – denn, Hand aufs Herz: wer geht schon aufgrund des Librettos in eine Operette (oder Oper)? Iss eh jedem Tschapperl kloar, was da so abgeht zwischen den Paaren, was indes nicht heißt, dass das Textbuch, das Viktor Léon und Leo Stein kurz vor dem Tod des Komponisten geschrieben haben, dümmer wäre als andere Operettentextbücher. Interessant ist es ja schon deshalb, weil es stilbildend wurde für eine lange Reihe von gleichartigen Werken. Aus diesem Grund tut ein inszenatorischer Eingriff ins Bühnengeschehen Not; die Österreicherin Nicole Claudia Weber erfand, zusammen mit ihren Bühnenbidnern Karl Fehringer und Judith Leikauf und mit der Kostümgestalterin Marie-Luise Walek, eine zwischen dem Wiener Himmel und der Erde vermittelnde neobarocke Architektur, in deren oberem Teil sich zumeist ein Wiener und ein Bayerischer Engel tummeln, das Geschehen stumm kommentieren und gelegentlich sanft eingreifen. Es stört nicht weiter; wenn man sich auf die irdische Szenerie konzentriert, sieht man auf Klimtsche Muster (die Goldene Adele schaut uns an), die verständlich machen, wieso im Vorspiel neben dem Stephansdom das von Friedensreich Hundertwasser ausgestattete Fernkraftwerk als zweites Architektursymbol der Stadt Wien fungiert: hier wie dort beherrscht ein Farbrausch die Fläche, vor dem die Konflikte dieser Partnertauschgeschichte hinweggewalzert werden.

Die Operette sei, so Peter Lund im guten, vom Dramaturgen Daniel C. Schindler gestalteten Programmheft, "ein satirischer Blick auf die Unmöglichkeiten des Daseins, ohne jedes Glücksversprechen oder kitschige Himmelfahrtkommandos, ein Angebot zu lachen, über die eigene Gesellschaft, über die eigenen Sehnsüchte und damit über sich selbst“. Mag sein, dass in Wiener Blut doch ein Glück versprochen wird, das ohne Reu über vergangene Fehler einmal eintreten wird – der Witz besteht darin, dass die zwischenzeitliche Rückkehr des Grafen zu seiner Frau, die er ja nicht grundlos zugunsten einer Geliebten verlassen hat, während er gleichzeitig einer Dritten nachpirscht, nur mit Humor zu nehmen ist. Indem die Textdichter, so der Dramaturg, „ihren Zeitgenossen die Scheinheiligkeit der vormaligen bürgerlichen Sexualmoral zu Beginn des zurückliegenden Jahrhunderts vor Augen führen, halten sie ihnen zugleich einen Spiegel in Bezug auf ihre eigene gegenwärtige Verklemmtheit vor“. Schon recht, aber der Schluss, den die Regie aus dieser Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft zieht, ist augenzwinkernd – und versöhnlich. Così fan tutti – wobei es eher die Kerle, weniger die „süßen Madln“ sind, die sich nicht zähmen lassen. Wie sich in einem 4. Akt die Beziehung zwischen Graf und Gräfin und Diener und Probiermamsell gestalten würde, ist eh hypothetisch; in München aber krönt am Ende das goldene Standbild des Walzerkönigs nach den diversen Verwicklungen und Laubenabenteuern das harmonische Schlussbild. Es scheint eben doch ein „selt‘nes Gut“, dieses Wiener Blut eines Vielvölkerstaats, in dem die sozialen Grenzen durch die erotischen Bedürfnisse ausgeglichen scheinen. Am Anfang tanzen sich doch, vor dem Kunsthimmel und unter den riesigen Tropfen (!) imaginärer Riesenlüster, schon die „richtigen“ Paare in die Arme. Vor dem lieto fine steht schließlich der Auswuchs eines absurden Theaters, in dem das Wechselspiel wie in jedem guten Boulevard fröhliche Urständ feiert und das Ensemble der Stimmen mit dem Orchester des Staatstheaters am Gärtnerplatz unter der guten Leitung von Michael Brandstätter zu schönem Einklang findet.

Dabei wird durchaus nicht klar, wieso sich der Graf, der mit dem Wiener Daniel Prohaska eine gutaussehende Erscheinung gefunden hat, auf Abwege begibt, um eine leicht zickige Franziska Cagliari – Ilia Staple – zu beschlafen, wenn er eine Dame vom Format Alexandra Reinprechts als Frau Gemahlin titulieren darf… die ihrer Rolle mit ihrem damenhaften Sopran und jeder Menge Grazie und Humor Kontur verleiht. Schon wie sich bei ihrem vollkommenen Auftrittslied – Grüß Dich Gott, mein liebes Nesterl – auf der Kommode drapiert, hat Klasse und Souveränität. Kein Wunder, dass Graf Bitowski – eine leicht bizarre, im Rollstuhl fortbewegte, immerzu auf Frauenjagd sich befindliche Figur mit riesigen Greifhänden – auch ihre Arme abbusselt. Eduard Wildner spielt diese grandiose Charge zum Vergnügen der Zuschauer, er macht auch den derben Fiakerkutscher, der im dritten, dem Hietzinger Heurigen-Akt, ein Trinklied beisteuern darf, das sich in der üblichen heiteren Wiener Melancholie ergibt. Grandios auch, in aller klischeehaften Übertreibung, die ein echter österreichischer Jahrgang 1939 dem stets angesäuselten Vater der Cagliari zu geben weiß: Wolfgang Hübsch. Sehr gut auch der gräfliche Diener, also Daniel Gutmann, dessen markanter dunkler Bariton ihn, wie man zu Zeiten des Wiener Bluts geschrieben hätte, zu dem sog. Höheren befähigt, wenn man einmal kurz vergisst, dass Operettesingen eine genau so hohe Kunst ist wie Opernsingen. „Ich nehm‘s mit jedem Ballettmodell auf“, sagt Pepi Pleininger, die Probiermamsell, die Wienerin Julia Sturzlbaum, die die Soubrettenrolle sozusagen werktreu macht: also einfach pfiffig, bis hin zum hysterischen Gezappel, mit dem sie am Ende des ersten Teils ihre Wut über den scheinbar verlorenen Josef herauszetert. Dabei müsste sie doch wissen, dass Josef (öster. „Pepi“) und Pepi so zusammengehören wie Graf und Gräfin. Bleibt der leicht cholerische sächsische und sächselnde, des Wiener Dialekts natürlich unkundige Fürst Ypsheim-Gindelbach, der, das ist so eine Überraschung, wenn er singt, ausgesprochen elegant singt: Alexander Franzen.

Also: Eine sprachlich und musikalisch schwungvolle Wiener Aufführung, mitten in München – genau dies bekam der Münchner Operettenfreund geschenkt.

Frank Piontek, 18.10. 2021

Fotos: ©Christian POGO Zach (Die Fotos zeigen nicht die erwähnten Darsteller)