Gelsenkirchen: „Eugen Onegin“

Premiere: 1.3.2019

Eine Aufführung, die nicht anrührt

Preisfrage: welche Opernpartitur erfordert neben einem bloßen Streichquartett und ein paar Bläsern Klavier, Celesta und Akkordeon (insgesamt 11 Spieler)? Der geneigte Leser wird es kaum erraten: „Eugen Onegin“. Aber tatsächlich hat sich André Kassel getraut, Tschaikowskys Musik zu einem Salongeraune herabzudimmen. Die Tasteninstrumente gehen einem schon bald auf die Nerven, zumal die Celesta, und das Akkordeon suggeriert mehr karnevalistische Fröhlichkeit als russischen Herz-Schmerz.

Herr Kassel arbeitet in Weimar, wo der jetzige Gelsenkirchener Intendant Michael Schulz bis 2008/9 Operndirektor war. Dort wurde offenbar diese obskure Idee geboren, worüber freilich nichts Definitives verlautet. Der Leporello des Musiktheaters im Revier behauptet keck, daß sich die klangdürftige Neuinstrumentation „der von Tschaikowsky intendierten Intimität wieder an(nähert)“. Behauptung ist eine Sache, Wahrheit eine andere. Gefühle bei Tschaikowsky sind bei aller vorhandenen Zartheit nun mal großdimensioniert und erfordern ein ausreichendes orchestrales Fundament. Was einem unter dem kaum angemessen zu beurteilenden Dirigenten Thomas Rimes entgegenwimmert, ist – gelinde gesagt eine ziemliche Zumutung.

Durch Kassels Bearbeitung ist die Aufführung zwangsläufig ins Kleine Haus verschlagen worden. Die Musiker sitzen links von einer mittigen Plattform, viele Auftritte geschehen von hinten, der Chor erhebt sich von Sitzreihen im Rang. Da wird aus der Not nur wenig Tugend gemacht. Dieter Richter bietet auf der Bühne einen Hintergrundprospekt mit Birken, echte Stämme stehen links und rechts. Im Duellbild wird der Prospekt variiert und erhält durch nachtbläuliche Beleuchtung eine imaginäre Atmosphäre. Lampions und Kronleuchter dienen der coleur locale bei den Festbildern, zu denen Renée Listerdal adäquate Kostüme beisteuert.

Rahel Thiel, Regieassistentin am MiR, hat vor einiger Zeit eine durchaus eindrucksvolle Inszenierung von Brittens „Turn oft he Screw“ geboten. Ihre „Onegin“ besitzt nur wenig dringliche Momente, ist in toto biedere Hausmannskost. Der Chor ist beispielsweise auch dann da, wenn er überhaupt nicht gebraucht wird wie bei Onegins Arie, steht oft nur peinlich steif herum (Gremin-Fest). Und bei der szenischen Vermittlung von Gefühlen bei den Protagonisten läuft nicht allzuviel oder sie ist schlichtweg falsch wie die letzte Begegnung von Tatjana und Onegin. Weitere Details zu diesen Defiziten auf Anfrage.

Eine Szene immerhin kann als bemerkenswert gelten. Nach dem Tod von Lenski (der bis zum Schluß auf der Bühne liegen muß) wühlt Onegin erregt im Bodengras herum. Das erinnert an die letzte Inszenierung der Oper 1981 durch Dietrich Hilsdorf, der vom damaligen Intendanten Claus Leininger zu seiner ersten Musiktheaterregie ermuntert worden war. Da wälzte sich John Janssen verzweifelt auf der Bühne, während der Festchor des nächsten Bildes bereits seinen Auftritt absolvierte. Das war ein emotionaler Kontrast, der unter die Haut ging.

Ein anderes Detail von damals. Am Ende seiner Arie (die ja keine kalte Predigt ist, sondern eine – freilich schmerzhaft – nüchterne Belehrung) stieß Onegin mit seiner Fußspitze einen kleinen Papierturm um, hinter welchem sich Tatjana „verbarrikadiert“ hatte. Kleine Geste, große Wirkung. Wenig Vergleichbares in der aktuellen Aufführung, die vom Premierenpublikum unverständlicherweise widerspruchslos hingenommen wurde.

Wenigstens die Sänger bieten Lichtvolles, wobei auch der von Alexander Erberle einstudierte Chor ausdrücklich zu erwähnen ist – Sonderapplaus nach dem ersten Auftritt. Bele Kumberger gibt eine sehr mädchenhafte, auch in der Mimik ausdrucksvolle Tatjana, Piotr Prochera (diesmal sehr belcantesk) einen (wo er darf) feurigen Onegin. Der Südafrikaner Khanyiso Gwenxane bezaubert mit einem stimmschönen Lenski; dazu subtile Phrasierung und dynamische Noblesse. Michael Heine muß die Gremin-Arie vor versammelter Festgesellschaft absolvieren und tut das mit fürstlichem Anstand. Noriko Ogawa-Yatake (Larina, darstellerisch unterfordert), Almuth Herbst (ein rundum stimmige Filipjewna – 1981 war es Marga Höffgen!) und bei Nachwuchs Lina Hoffmann (Olga), John Lim(Hauptmann/Saretzki) und Moritz Welsing (Guillot) sind wie weiteren Mitwirkenden. Nicht zu vergessen Tobias Glagau, welcher das Triquet-Ständchen doch wahrhaftig in besoffenem Zustand offerieren muß. Das freilich macht er virtuos.

Noch lange nach der Aufführung klingelte einem die Celesta in den Ohren.

Christoph Zimmermann 2.3.2019