Genf: „Iphigenie en Tauride“

Besuchte Aufführung: 04.02.2015, Premiere: 25.01.2015

Von vorn betrachtet scheint alles beim alten und bestens bekannt. Eine neue und völlig überraschende Perspektive auf das Geschehen von Iphigénie en Tauride erschließt in dieser Inszenierung jedoch ein Blick auf die Rückseite der Kulisse.

Ein von den Spuren der Vergänglichkeit gezeichnetes Halbrund eines griechischen Amphitheaters, in lebhaftem Rot-Gelb bemalt: Bühnenbildner Alexander Polzin hat für Glucks „Iphigénie en Tauride“ ein naturalistisch-klassisches Ambiente geschaffen. Die Farbigkeit, von den Wänden der heutigen Ruinen längst abgeblättert, ist dabei nicht einmal moderner Akzent, sondern entspricht historischen Tatsachen. Das, was auf der Bühne stattfindet, ist vergangen und gegenwärtig zugleich. Vor allem jedoch ist es „Theater auf dem Theater“ – Handlung als Puppenspiel im Wortsinn. Jeder Protagonist ist doppelt anwesend: als Person und Avatar, als konkretes Ich und abstrakte Idee. Dabei werden die Puppen bewegt von schwarzen Hintergrundfiguren, den Akteuren des Chors, die – ohnehin nicht als Individuen erkennbar – dadurch noch mysteriöser, unwirklicher erscheinen.

Regisseur Lukas Hemleb hat diese aus Japan und Taiwan stammende Aufführungstechnik, die er im Rahmen dortiger Theaterprojekte kennenlernte, zum zentralen Element erhoben. Die Übertragung auf den Kontext einer mythischen Erzählung der griechischen Antike wirkt zunächst befremdlich. Bei näherer Betrachtung erweist sich sein Kunstgriff jedoch nicht als exotisch, sondern als wahres Füllhorn an Deutungsebenen, die „Iphigénie auf Tauris“ enthält.

Von der Grundidee des klassischen Dramas, bei dem die Akteure Ideen statt Individuen symbolisieren, über die gleichzeitige Darstellung der verschiedenen Sphären der Handlung – Unterbewusstsein und Bewusstsein, Albtraum und Realität – bis hin zu Gedanken aus Kleists Essay „Über das Marionettentheater“ oder gar zur Möglichkeit, das Handeln der Protagonisten als Computerspiel zu begreifen, sind in diesem Regiekonzept alle Bedeutungsdimensionen wunderbar stimmig subsumiert. Die Tatsache, dass auch in Deutschland, insbesondere in der ehemaligen DDR, das Puppentheater hohe Popularität genoss, scheint in diesem Zusammenhang eher zufällig in den Sinn zu kommen.

Ganz augenscheinlich wird zunächst vielmehr, dass die handelnden Personen allesamt „Puppen“, dass sie fremdbestimmt und -gesteuert sind: Iphigénie durch Diana (und durch Thoas), Oreste durch Apoll und dessen Orakel, Thoas durch die Götter und das Volk, dessen Unterstützung er nur gewaltsam erzwingen kann. Am Schluss wird sich sogar erweisen, dass Diana – einzige Akteurin, die nicht von einer Puppe gedoppelt wird – nicht Herrin ihres Tuns ist. Ihr plötzlicher Sinneswandel hin zu Humanität und Frieden bleibt unerklärlich, er ist geradezu – ein Wunder.

Bevor man es als solches begreifen kann, rückt zu Beginn des zweiten Akts die Rückseite des Amphitheaters in den Blick. In diese sanft gerundete, schmutziggelb getönte Mauer ist ein winziges Verließ eingelassen, Gefängniszelle und Folterkammer der gestrandeten Helden Oreste und Pylade. Unterhalb dieses Wandlochs steht in kapitalen Buchstaben das Wort „Artemis“, und bei näherer Betrachtung erweist sich die ganze Fläche des wehrhaften Steinwalls, der in der Höhe nicht zerklüftet ist, sondern wie mit der Kelle exakt auf eine gerade Linie gebracht, mit modernen Graffiti-Zeichnungen übersäht.

Eine Parallele zur Gegenwart, die „Iphigénie en Tauride“ enthält, lässt sich ableiten aus der Ära, in der die Geschichte spielt: Sie ist angesiedelt in der Zeit nach Ende des Trojanischen Kriegs, und in ihrem Mittelpunkt steht das Schicksal der Kinder Agamemnons. Die Taten ihrer Eltern sind die Schatten der Vergangenheit, die auf ihrem jungen Leben lasten. Die Toten geistern durch die Szenerie, die Gräuel des Kriegs haben eine albtraumhafte Gegenwärtigkeit für die Nachgeborenen. Die Geschwister wissen kaum etwas über den jeweils anderen, zu dem sie nicht in Kontakt treten können. Sie wurden als Kinder gewaltsam voneinander getrennt.

Und trennend senkt sich auch der schwarze Vorhang zum Ende des zweiten Akts zwischen Publikum und Iphigénie, noch während ihrer Arie, als sie den vermeintlichen Tod des geliebten Bruders, die endgültige (Ab-)Trennung von ihm und ihrer Familie beklagt. Die große Trauerschale, als zeremoniöses Gefäß zuvor von ihr nahe der Bühnenrampe platziert, bleibt sichtbar auf der Bühne stehen, das bronzefarbene Metall warm glänzend vor dem dunklen Samthintergrund, wie ein Mahnmal zum Gedenken an den unbekannten Soldaten.

Sie ist, als das Publikum aus der Pause ins Auditorium zurückkehrt, von der Rampe verschwunden – doch als sich der Vorhang erhebt, taucht sie, in veränderter Gestalt und Funktion, abermals auf: Von der Decke regnen dickflüssige rote Tropfen wie Blut in eine Opferschale. Und mit dem Anruf der Göttin schwebt aus der Höhe auch das Amphitheater wieder ins Blickfeld – allerdings nur dessen Sockel, der wiederum ebenfalls eine Charakterveränderung erfahren hat: als Decke eines Naturtempels, einer Tropfsteinhöhle.

Die aus den Stalaktiten erst tröpfelnde, dann strömende Farbe bedeckt im Laufe des dritten Akts den düsteren Boden mit kreisförmigen abstrakten Bildkompositionen im Pop-Art-Stil. Im Vordergrund jedoch markiert sie eine rot-gelb-schwarze schnurgerade Linie, die an einer Stelle unterbrochen ist. Der drohende Krieg ist wundersam abgewendet. Die Göttin (und die Politiker) hatten ein Einsehen. Die Geschwister sind wieder vereinigt. „Versagt war lang das Glück uns, nun sind die Götter versöhnt“, lautet der föhliche gemeinsame Schlusschor, bei dem sämtliche Akteure mitsingen.

Wer „Iphigénie en Tauride“ nicht als mögliche politische Allegorie betrachten mag, gelangt dennoch zu ähnlichem Resümee – und zwar durch die Musik. Es scheint, als sei sie auf Erlösung hin komponiert – und zwar nicht erst in der Arie des Orestes im zweiten Akt. Von Anfang an klingt sie luftig, anmutig, elegant, gelöst – einerseits befreit von der mit Verzierungen überladenen Barockoper und andererseits geprägt vom Gedanken der Aufklärung.

Dass ihr Charakter als (ganz wunderbar jung und frisch) „vertontes humanistisches Ideal“ zutage tritt, liegt entscheidend an der feinen Ästhetik der Inszenierung. Das „Puppenspiel“ betont den Kontrast zwischen Musik und Handlung, die Gewalt und Todessehnsucht thematisiert. Der Verfremdungseffekt wirkt wohltuend distanzierend und emotional bewegend zugleich – und ermöglicht dadurch Katharsis.

Geradezu ein Wunder ist bei dieser „Iphigénie en Tauride“ auch der perfekte harmonische Zusammenklang aller musikalischen Ausführenden (anrührend zart und beeindruckend stark zugleich: Anna Caterina Antonacci als Iphigénie; leidenschaftlich und lyrisch: Bruno Taddia als Oreste, Steve Davislim als Pylade). Und unter der Leitung von Hartmut Haenchen beweist das Orchestre de la Suisse Romande, dass es ein verschlanktes und dennoch wunderbar farbenreiches Klangbild der historischen Aufführungspraxis hervorzuzaubern versteht.

Wer es zu dieser klug verrätselten und transparent musizierten „Iphigénie en Tauride“ nicht geschafft hat, kann einen Besuch nachholen: Der Schweizer TV-Sender Espace 2 sendet eine Aufzeichnung am 7. März 2015 um 20 Uhr.

Christa Habicht, 6. Februar 2015

Fotos: Carole Parodi