Luxemburg: „Egisto“, Pier Francesco Cavalli 1602-1676

Premiere in Luxemburg am 05.12.13; Premiere in Paris (opéra comique) am 01.02.12

Von Spezialisten für Spezialisten

Alte Opern spielen im Musiktheaterprogramm des Grand Théâtre de Luxembourg mit seinen Koproduktionen und Übernahmen eine herausragende Rolle. Nach La Calisto und La Didone ist nun bereits die dritte Cavalli-Oper im Programm des Theaters. Dieses Mal wurde mit der opéra comique in Paris und der Oper Rouen-Haute Normandie sowie mit dem Orchester „le poème harmonique“ koproduziert. Die beiden Aufführungen in Luxemburg beschließen die Aufführungszyklen an den beiden anderen Häusern mit fast identischer Besetzung. Die musikalische und szenische Leitung der Produktion liegt in bewährten Händen bei Vincent Dumestre und Benjamin Lazar, die schon manches Barock-Projekt gemeinsam gestemmt haben.

Pier Francesco Cavalli, Schüler von Claudio Monteverdi, war die beherrschende Gestalt der Italienischen (venezianischen Oper) zwischen der Ära seines Lehrers und der aufkommenden neapolitanischen Oper mit Alessandro Scarlatti. Seine Oper Egisto (Libretto Giovanni Faustini) wurde 1643, also im Todesjahr von Monteverdi uraufgeführt. Knapp 30 von Cavallis über 40 Opern sind erhalten. Aber außer seiner La Calisto findet man heute trotz der in den 60er Jahren von Raymond Leppard eingeleiteten kleinen Renaissance seiner Werke kaum etwas auf den Spielplänen der Opernhäuser.

Die vier Schatten, Amor, Apollo

In Stoff und Stil charakterisiert das Stück den damaligen Übergang vom höfischen zum kommerziellen Theater in Venedig. Es treten keine Heroen mit historischem Hintergrund auf; Götter und Allegorien sind sehr menschliche Gestalten. Favola drammatica musicale nennt Cavalli sein nun wieder vorgestelltes Werk. Im Haupthandlungsstrang ist es an sich eine Schmonzette im Stil der Zeit. In turbulenten äußeren Umständen (erzählte Vorgeschichte) hat Clori ihren Egisto verlassen müssen und sich in Lidio verliebt. Dieser wiederum hat über Clori seine alte Liebe Climene vergessen. Climenes Bruder Hipparco liebt ebenfalls Clori. Missverständnisse, Eifersucht, Hass und Rache bewegen die Menschen bis zum glücklichen Ende, das von der übergeordneten Ebene, nämlich von den Göttern arrangiert wird. Es treten Venus und in ihrem Gefolge die Allegorien Volupia und Belleza auf, der Sonnengott Apoll als Vater des Titelhelden Egisto sowie natürlich Amor. Den verschlägt es sogar in die Unterwelt, eine dritte Ebene, wo sich vier von der irdischen Liebe enttäuschte Gestalten (Semele, Fedra, Dido und Hero, also Amors frühere Opfer) an ihm rächen wollen. Apoll greift ein, rettet Amor vor diesen Furien und bestimmt ihn, die Ausgangssituation mit dem hohen Paar Clori und Egisto wieder herzustellen. So wird Egisto von dem Wahnsinn befreit, dem er zwischenzeitlich aus Verzweiflung verfallen war. Das Stück ist nicht ohne Frivolität einer Boulevard-Komödie; stellt aber auch Lebensweisheiten und Belehrungen ans Publikum aus.

Die drei Personal- und Handlungsebenen werden in Benjamin Lazars Inszenierung im Bühnenbild (Adeline Caron) und in den Kostümen (Alain Blanchot) klar abgebildet. Leider nur die halbe Bühnenbreite nimmt in der Mitte eine idyllische runde römische Ruine mit zwei Etagen von aus Ziegelstein gemauerten Fensterbögen ein. Dieses exquisite mit viel Liebe zum Detail ausgearbeitete Einheitsbühnenbild ist wohl für eine kleinere Bühne als die des Grand Théâtre konzipiert. Zwei Treppen führen nach oben; das Ganze steht auf einem Drehteller. Die Götter agieren meist auf der oberen Etage, die Menschen darunter, die Unterweltler davor. Zusammen mit der naturalistisch abgebildeten Vegetation, die schon von der Ruine Besitz ergriffen hat, werden so die Hauptspielorte der Handlung, vor allem Hain und Palast glaubhaft gemacht. Barock-Retro total hat Lazar in Szene gesetzt: eine nächtliche Opernaufführung mit Kerzenbeleuchtung (und ganz dezenter indirekter Beleuchtung: Christophe Naillet, Licht). Nicht immer leicht erkennbar treten die Figuren in ihren prachtvollen Gewändern aus dem Ganzdunkel von hinten ins Halbdunkel nach vorne. Oben ist es kaum heller, aber die Götter sind in Weiß gewandet und besser zu sehen und zu erkennen. Über zweieinhalb Stunden Spielzeit im Schummerlicht ist für heutige Verhältnisse ungewöhnlich. Ungewöhnlich sind auch die durchgängig angewandte Bewegungsregie sowie Gestik und Mimik, die ebenfalls gewollt historisierend in Anlehnung an das antike Theater erfolgen und eher der tragédie lyrique entsprechen als einem dramma musicale. Spontaneität und Ausdruckskraft erreichen die Darsteller durch diese manierierte Stilistik in Bewegung und Gestik nicht. Mit fundamentalistischer Konsequenz werden diese Regieprinzipien durchgehalten, wodurch eine gewisse Statik und ein Eindruck von Länge entstehen. Der Stoff wird ernster genommen, als er eigentlich ist; Parodie und Humor, ironische Distanzierungen werden vermisst – wie auch pastorale Heiterkeit. Selbst die eigenartige Figur der Dema, Amme und Kupplerin, agiert in steifem Ernst. Es verbleibt der Eindruck einer „musikwissenschaftlich historisch informierten Inszenierungspraxis“, die wohl Interesse, aber weniger Empathie erregen kann.

Dennoch kommt keine Langeweile auf. Denn die historisch informierte musikalische Aufführungspraxis des famos aufspielende Barock-Ensemble „Le Poème Harmonique“ unter der Leitung von Vincent Dumestre ließ keine Wünsche offen. Es wurde auf Originalinstrumenten in einer kleinen Besetzung von achtzehn Musikern gespielt. Das entspricht sicher den historischen Gegebenheiten: Das uraufführende Teatro San Cassiano in Venedig hatte nur etwa 500 Plätze; Kosten mussten hereingespielt werden. Dumestre setzte sein Ensemble gut zur Hälfte aus Streichern zusammen, zwei Flöten für die pastoralen Farbtupfer, dazu zwei Cembali, Lauten, Harfe und Theorbe, was den Zupfinstrumenten auch im Continuo eine besondere Präsenz gab. Durch raffinierte Instrumentenkombinationen kam nie Monotonie auf; der Fluss der Musik in Harmonik, Rhythmik und Melodik war bestens ausgewogen. Dumestre gelang es, dass die Musik nie trocken oder auster klingt; er hat immer genügend Farbkontraste bereit, um den Gesangsbegleitung zu differenzieren.

Nicht sparen musste das Teatro San Cassiano offensichtlich bei den Gesangssolisten. Deren gab es so viele, dass man da heute nicht mehr mithalten will. Einige der Personen der Originalbesetzung waren gestrichen, es waren aber für die neunzehn verbleibenden Rollen immer noch zwölf Sänger gelistet (sechs Doppel- eine Dreifachbesetzung). In dem steten Wechsel von Rezitativ, Arie und recitar cantando herrschte eine ungewöhnlich gute Textverständlichkeit vor, obwohl kaum Muttersprachler besetzt waren. Daher waren auch bei einigen Solisten Duktus und Farbgebung der Sprache nicht wirklich italienisch. Alle Sänger des überwiegend sehr jungen Ensembles waren aber bestens im Barockgesang ausgebildet. Es gab kein ausladendes Flackern, keine Tremoli; kompromisslos authentischer Gesang der überwiegend hellen Stimmlagen mit durchweg gekonnter Koloraturbeweglichkeit. Alle sangen mit ihren Naturstimmen.

Die Titelrolle gab Marc Mauillon mit sehr hellem, schlankem Bariton sehr präsent. Dazu war er in der langen Wahnsinnsszene (textlich interessanter als musikalisch) schauspielerisch besonders gefordert und brach hier mit naturalistischem Spiel aus dem Generalduktus der Inszenierung aus. Der belgische Tenor Reinoud van Mechelen, fügte seinen vielen haute-contre-Rollen mit dem des Lidio eine weitere bemerkenswerte Partie hinzu. Claire Lefilliâtre als lebendige Clori gefiel mit ihren glasklaren Höhen und feinen Vokalisen, klang dabei aber ziemlich trocken. Der geschmeidige Mezzo von Isabelle Druet als Climene gefiel mit seiner schönen dunklen Grundierung. Cyril Auvity als Hipparco, szenisch sehr zurückgenommen, überzeugte mit feinem hellen Tenor-Timbre und klaren Linien. Ana Quintans gab einen sehr beweglichen Amor (mit großen Flügeln) und klangschönem silbrigen Sopran. Dazu übernahm sie noch die Partien von Aurora (im Prolog) und der ersten Hore. Serge Goubiod wirkte zunächst im Prolog als Notte, zusätzlich war er als Dema besetzt, dem buffonesken Feigenblatt der Oper. Das durfte er nicht realisieren, gefiel aber dafür mit seinem kräftigen, klaren und hellen, etwas kehligen Tenor. Mit jeweils kleinen Partien versehen, dazu überwiegend im Ensemble singend waren Luciana Mancini als Didone und Volupia, Caroline Meng als Hero und Bellezza, Hasnaa Bennani als Semele und Cinea sowie Mélodie Ruvio als Fedra und Venere tadellos besetzt. Insgesamt hatte man also eine homogene Besetzung auf hohem Niveau zusammengebracht.

Fazit: Für Opernsammler allemal ein Erlebnis, zumal bezweifelt werden muss, ob jemand das Stück sobald wieder anfasst. Musikalisch ein Hinhörer. Die Regie hat sich am selbst gestellten Thema sauber abgearbeitet; aber vielleicht war dieses Thema am italienischen Objekt verfehlt. Dem Publikum im recht gut besetzten Theatersaal gefiel es gut, und es verabschiedete die Akteure mit langanhaltendem Beifall.

Manfred Langer, 06.12.13

Fotos: © Pierre Grosbois