Luxemburg: „La forza del destino“

Vorstellung am 15.10.2013 – Koproduktion mit der Vlaamse Opera (Premiere in Antwerpen am 09.02.2012)

„Die Macht des Zufalls“ – eine stilisierte Geschichte mit viel Blut

Auch der russische Zar wollte nach der Furore, die Verdi mit seiner trilogia populare international machte, für das Mariinski-Theater eine Oper des Meisters haben. Die Stoffauswahl fiel auf die Vorlage Don Álvaro o la fuerza del sino (1835) des spanischen Herzogs, Schriftstellers und Politikers Ángel de Saavedra, auf der Francesco Maria Piave sein achtes und letztes Libretto für seinen Freund Verdi aufbaute, wobei Elemente aus Schillers Wallensteins Lager in den Stoff integriert wurden (Soldatenszenen und Kapuzinerpredigt). Zur Einstudierung der Uraufführung kamen Verdi und seine Frau Giuseppina Strepponi nach St. Petersburg und hatten sich wohl auf einen längeren Aufenthalt vorbereitet, da sie kistenweise italienischen Rotwein und Salami mitnahmen. Bis es zur Uraufführung 1862 kam, musste Verdi aber noch ein zweites Mal anreisen. Die nationalrussischen Kreise lehnten die Oper ab, ebenso wie Germanophilen und die deutsche Kolonie. Die „Teutonen“ mögen wohl keine italienische Oper, meinte die Strepponi; vielleicht mochten sie aber nur das Kriegsgeschrei nicht (Morte ai tedeschi!). Dennoch wurde die Oper in Russland zu einem Erfolg, Verdi bekam vom Zaren einen Orden. Bei der Erstaufführung in Italien 1863 fiel die Oper durch. Zusammen mit dem Librettisten Antonio Ghislanzoni arbeitete Verdi die Oper um; diese zweite Mailänder Fassung wurde 1869 zum Erfolg und ist heute die überwiegend aufgeführte Version. An der Vlaamse Opera und in Luxemburg kam nun indes die selten gespielte Erstfassung ungekürzt zur Aufführung.

Finale 2. Akt

Wegen seiner eingänglichen Musik und des großen Emotionsgehalts, nicht wegen seiner spannenden Handlung gehört die Oper immer noch zum Hauptrepertoire. Verdi selbst hatte geschrieben, dass das Werk eine Häufung von Unglücksfällen und Unwahrscheinlichkeiten sei; aufgrund des kruden Librettos, das die Szenen ohne dramaturgische Stringenz aneinanderreiht, wurde die Oper auch „Macht des Zufalls“ genannt. Sie wird nicht glaubwürdiger, wenn man sie mit historischem Lokalkolorit bringt und dazu ein hübsches Bühnenbild mit den vielen möglichen Zutaten (Adelspalais, Osteria, Klosterkirche und Klause in wildem Gebirge, Schlachtfeld, Heereslager, Marktplatz) baut und das viele Volk in immer neuen Verkleidungen auftreten lässt. So hat der profilierte Schauspielregisseur Michael Thalheimer, der mit dieser Inszenierung erst seine vierte Arbeit fürs Musiktheater vorlegt, mit seinem Bühnenbildner Henrik Ahr allen Ausstattungsidyllen radikal abgeschworen. Eine von einem schmalen Graben umgebene leicht nach hinten ansteigende schwarze Platte in schwarzem Raum bildet das Einheitsbühnenbild für die vier Akte der Oper; im Hintergrund bedroht ein riesiges sich schräg nach vorne neigendes, von innen besteigbares Kreuz die Szenerie; durch Lichteffekte (Franck Évin) wird es verschieden herausgehoben. Auf dieser Plattform laufen die ersten beiden Akte sehr stilisiert ab. Als „Farben“ für Dekor und Kostüme (Michaela Barth) überwiegen schwarz, weiß (Leonora) und Grautöne. Die Chöre werden noch an der Seite, im Hintergrund oder auf dem Rang gehalten, so dass das Spiel völlig auf die Protagonisten konzentriert ist bis zum großartigen Ende des zweiten Akts, als der Chor der Mönche über die ganze Rampenbreite aufgestellt ist sich im Schwarz der Szene und der Kostüme nur noch die Gesichter der Fratres sichtbar bleiben. Leonora war durch das Innere des Kreuzes in ihre Klause hinaufgestiegen. In der Personenführung bleibt Thalheimer sehr reduziert, aber trotz oder vielleicht wegen deren Statik kann beträchtliche Spannung erzeugt werden. So hinterlassen die beiden ersten Akte der Aufführung einen starken Eindruck.

Don Carlo di Vargas, sitzend: Mikhail Agafonov (Don Alvaro)

Bereits im zweiten Akt kamen die Stühle. Seit einiger Zeit gehören Stühle zu den Lieblingsrequisiten der Regisseure. Was man damit nicht alles machen kann. Man kann sie ordentlich in Reihen hinstellen und darauf den Chor Platz nehmen lassen; man kann auf die Stühle steigen und toben; man kann sich zwischen den Stuhlreihen verstecken, man kann sie auch emotionsgeladen umstürzen und durcheinander schmeißen; weil sie so leicht sind, kann man ihnen herumfuchteln und auf sein Gegenüber losgehen und vieles andere mehr. Stühle sind auch nicht teuer. Man achte auf Stühle in modernen Opernaufführungen! Hier werden die (natürlich schwarzen) Stühle zum zweiten Akt in großer Zahl (für einen großen Chor) hinten aufs Spielfeld geworfen: schon befindet man sich in der Osteria! In den folgenden Akten sind sie zusammen mit dem Chorvolk choreographiert. Einem einzelnen Exemplar kommt eine dramaturgische Schlüsselrolle zu: Don Alvaro hat sein Portefeuille mit seinen persönlichsten Papieren unter einem der Stühle versteckt, der auf die vordere leere Bühnenhälfte ausgeeinzelt worden war; eine der Szenen mit einem relativ hohen Konkretisierungsgrad.

Das Geschehen im dritten und vierten Akt wurde nicht mehr so vornehm abgehoben stilisiert. Fast fünfzig Choristen, die zwischen Volk, Marketenderinnen und Soldaten vieles darstellen sollen, wurden mit ihren Stühlen auf die hintere Bühnenhälfte verbracht. Mal stehend, mal sitzend, mal liegend verkörpern sie mit blutgetränkten Hemden oder nur in Unterwäsche das leidende Volk oder die Verletzten de Schlacht. Sie werden zu einem Teil des Bühnenbilds und verfolgen das Geschehen, das sich auf die beiden Widersacher Don Alvaro und Don Carlos di Varga konzentriert. Eine besondere Rolle hat die Regie aber auch der Preziosilla zugedacht, die neben ihren „eigentlichen“ Einsätzen vielfach stumm, aber nicht wirkungslos auf der Bühne belassen wird. Sie scheint zur Drahtzieherin des blutigen Geschehens zu werden und heizt das Volk zu frivolem Feiern auf, was geradezu die Intervention des Fra Melitone (Franziskaner) zu seiner „Kapuziner“-Predigt herausfordert. Und zum Schluss steigt sie die Stufen im Kreuz hinauf und weist hinunter auf die Bühne: Tote über Tote. Dass sich zwischendurch Don Alvaro und Don Carlo blutende Wunden zugefügt haben, ist handlungsbedingt; dass der Chirurg mit einer von Blut übergossenen Schürze auftritt, ist zwar auch handlungsbedingt; aber bei diesen Szenen hätte der Regisseur auch etwas mehr von der zurückgenommenen Stilisierung der ersten beiden Akte anwenden können, und man hätte dennoch verstanden, was Hass, Krieg, Eifersucht anrichten, vor allem wenn der Mönch dem Volk einen hehren Lebenswandel predigt, es aber gleichzeitig zu heldenhaftem Kampf und Krieg aufruft. Auch wegen unbestreitbarer Längen des zweiten Teils hinterlässt er nicht die gleichstarke Wirkung wie der erste. Dennoch eine gelungene Inszenierung.

Cathérine Naglestad (Donna Leonora)

Wenn man Verdi schon im 19. Jhdt. die vielfach holzschnittartig wirkenden Orchesterbegleitungen vorgeworfen hat, dann ist damit sich auch die Partitur der Forza gemeint. Schon die (kurze) Petersburger Ouvertüre ist in groben Strichen gezeichnet, einfach und einprägsam die Thematik. Erik Nielsen hatte die musikalische Leitung des Abends inne. Er stand am Pult des Orchestre Philharmonique du Luxembourg, das in großer Besetzung im Graben Platz genommen hatte (verstärktes Blech, Cimbasso) und mit der gebotenen Kantigkeit, aber stets großer Konzentration und Präzision und so gut wie fehlerfrei aufspielte. Es gibt auch viel Feines und Originelles in der Partitur; Harfen- und Orgelsoli, instrumentale Zwiegespräche mit zarten hohen Streicherklängen und die betörende Soli der Holzbläser, alle mit Bravour gemeistert. Da wurde die ganze Vielfalt der Partitur aufgeblättert, transparent gemacht und auch nicht einmal einfach nur heruntergegeigt, kein Verdi aus der Kurparkmuschel. Der verstärkte Chor der Vlaamse Opera war von Yannis Pouspourikas bestens präpariert und bewies seine Qualität von einer samtigen Piano-Intonation bis zur vollen Entfaltung der Klangstärke ebenso wie mit seiner bemerkenswerten Präzision – z.B. beim Rataplan.

Weitestgehend man in Luxemburg die starke, festspielreife Besetzung der belgischen Premierenserie übernommen. Cathérine Naglestad, von vornehm angenehmer Bühnenerscheinung, begeisterte als Leonora das Publikum mit zarter lyrischer Intonation, wunderbar warmer Mittellage und mit ihren klaren schön geführten Höhen. Als Don Carlo di Vargas überzeugte Dimitris Tiliakos mit mächtigem Bariton, klarer Diktion und beeindruckendem Auftreten. Im Duett mit ihm musste Mikhail Agafonov als Don Alvaro bis an die Grenze forcieren. Er setzte seine tenorale Kraft zu beeindruckenden Spinto-Tönen ein, gefiel mit kräftiger baritonaler Mittellage, zeigte aber je nach Registereinsatz auch Eintrübungen. Mit Viktoria Vizin war eine zierliche Mezzosopranistin aufgeboten. In scharzem Kleid stellte nicht den Archetyp der Zigeunerin dar, sondern wirkte eher als Kundry-Typ. Darstellerisch und sängerisch gefiel sie gleichermaßen; wunderbar ihr samtig ansprechender Mezzo, ihre Farbgebung und die schöne klare Kraftentfaltung der Stimme. Eine weitere Super-Besetzung stellte in der Rolle des Padre Guardiano Georg Zeppenfeld dar, der mittlerweile an den großen Opernhäusern dieser Welt zu Hause ist. Von unergründlichen kräftigen Tiefen bis in klare Höhen begeistert dieser sonore, volle und vielseitige Bass. Trotz seiner Jugend konnte er dem Padre gleichermaßen glaubhaft Strenge und Güte verleihen. Auch der Fra Melitone war mit dem markanten Bassbariton Josef Wagner sehr gut besetzt, den er stimmlich kraftvoll und schauspielerisch mit dem nötigen Schuss zum Buffonesken gestaltete. Die Nebenrollen ließen von ihrer Stimmqualität auch nichts zu wünschen übrig, so dass der Abend ein richtiges Gesangsfest wurde (Jaco Huijpen mit solidem Bass als Marchese di Calatrava; Anneke Luytens schöner schlanker Mezzo als Curra sowie Toby Girling als Alcade und Chirurg und Vesselin Ivanov als Trabuco).

Großer Beifall aus dem sehr gut besuchten Haus beschloss den Abend nach dreieinviertel Stunden. Eine weitere Vorstellung gibt es noch am 18.10.13

Manfred Langer, 16.10.13
Fotos: Annemie Augustijns

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