Ioanna Avraam wurde in Nikosia (Zypern) geboren. Sie erhielt ihre Ausbildung an der Nadina Loizidou Ballet School in Limassol und an der Heinz-Bosl-Stiftung/Ballett-Akademie in München. Erste Auftritte hatte sie mit dem Diastasis Ballett in Zypern und dem Bayerischen Staatsballett. 2008 wurde sie an das Ballett der Wiener Staatsoper und Volksoper engagiert, 2010 avancierte sie zur Halbsolistin des Wiener Staatsballetts, 2014 zur Solotänzerin und 2022 zur Ersten Solotänzerin. Redakteurin Katharina Gebauer sprach mit Frau Avraam über ihren Werdegang und die neue Position.
©Andreas Jakwerth
Zu ihrem umfangreichen Repertoire zählen die Titelrolle und Ein Bauernpaar in Elena Tschernischovas »Giselle«, Titelrollen in Michael Corders »Die Schneekönigin« und Boris Eifmans »Giselle Rouge«, Tatjana in John Crankos »Onegin«, Julia in Davide Bombanas »Roméo et Juliette«, Kitris Freundin in Rudolf Nurejews »Don Quixote«, Gefährtin des Prinzen, Kleiner Schwan und Neapolitanischer Tanz in Nurejews »Schwanensee«, Clémence in Nurejews »Raymonda«, Luisa in Nurejews »Der Nussknacker«, Fee des Ehrgefühls und Pas de quatre in Peter Wrights »Dornröschen«, Marie Gräfin Larisch und Prinzessin Louise in Kenneth MacMillans »Mayerling«, Lescauts Geliebte in MacMillans »Manon«, Helena in Jorma Elos »Ein Sommernachtstraum«, Gulnare und Zulméa in Manuel Legris’ »Le Corsaire«, Vivette in Roland Petits »L’Arlésienne«, Romola Nijinsky und Armide in John Neumeiers »Le Pavillon d’Armide«, Madame Elisabeth in Patrick de Banas »Marie Antoinette« und Ingrid, die Braut, in Edward Clugs »Peer Gynt«.
Zudem tanzte sie in Werken von George Balanchine, August Bournonville, Nils Christe, David Dawson, Andrey Kaydanovskiy, Jiří Kylián, Edwaard Liang, Serge Lifar, Thierry Malandain, Alexei Ratmansky, Jerome Robbins, Stephan Thoss, Wachtang Tschabukiani, Rudi van Dantzig, Christopher Wheeldon, William Forsythes »The Vertiginous Thrill of Exactitude« und »The Second Detail« sowie »Skew-Whiff« und »Source of Inspiration« von Sol León & Paul Lightfoot. Darüber hinaus wirkte sie in Uraufführungen von Patrick de Banas »Windspiele«, Natalia Horecnas »Contra Clockwise Witness«, Antony McDonalds/Ashley Pages »Ein Reigen«, Daniel Proiettos »Blanc«, András Lukács’ »Movements to
Stravinsky«, Pontus Lidbergs »Between Dogs and Wolves« und Martin Schläpfers »Die Jahreszeiten« mit.
Ioanna Avraam ist eine Ballerina, die nicht nur in klassischen Hauptrollen reüssiert, sondern auch in einigen modernen Choreographien auf sich aufmerksam macht. In den letzten Jahren fiel sie besonders in dramatischen Partien positiv auf, so feierte sie z.B. als Giselle, aber genauso als Giselle Rouge grosse Erfolge, nicht zuletzt ob ihrer detailgetreuen Interpretation und Ausdruckskraft. Nach ihrer 2. Vorstellung als Tatjana in John Crankos „Onegin“ wurde die exzellente Tänzerin auf offener Bühne zur 1. Solotänzerin ernannt.
Da sie sich mit ihren Partien auch durch eigenständige Recherche tiefgehend befasst, ist sie zweifelsohne eine Ballerina, die ihre Rollen versteht und dem Publikum verständlich machen kann. Überdies ist sie die erste zypriotische Ballerina, die es in einer international gefeierten Company ganz an die Spitze geschafft hat. Vielleicht ist dies auch eine Chance
für die Förderung der Ballettkultur in Zypern? Jedenfalls ermöglicht Ioanna Avraam gemeinsam mit ihrer Schwester und dem Projekt „The Avraams“ in den Sommermonaten Intensivkurse auf Zypern, wo junge Nachwuchskünstler sowohl Unterricht im klassischen Ballett, als auch modernen Tanz von renommierten Lehrern, wie auch aktiven Tanzstars erhalten.
KG: Liebe Frau Avraam, erst einmal ganz herzliche Gratulation für Ihr wohlverdientes Avancement!
IA: Vielen Dank!
KG: Seit 14 Jahren sind Sie Tänzerin des Wiener Staatsballetts, 2008 – wie die meisten Tänzerinnen – begannen Sie im Corps de Ballet, zwei Jahre später beim Direktionswechsel (Anm.: Legris) wurden Sie umgehend zur Halbsolistin ernannt, vier weitere Jahre später erfolgte dann die Ernennung zur Solistin und acht Jahre – ein Mathematiker wäre begeistert von der Zahlenfolge – danach vollendete der aktuelle Ballettdirektor Martin Schläpfer das meiner Meinung nach (siehe Kritik Giselle 2017) längst überfällige Avancement zur 1.Solotänzerin. Andererseits ist es auch schön, nach einer Partie wie der Tatjana diese Ehrung zu erhalten. Wie geht es Ihnen wenige Wochen nach dem Erfolgserlebnis?
IA: Es war ein sehr emotionaler Moment für mich, auch dass die ganze Arbeit der letzten Jahre wertgeschätzt wird, man Zustimmung erhält. Man kommt zu dem Punkt, wo der langgehegte Traum in Erfüllung geht und es war nicht unbedingt wegen dem Titel mein Traum, dahin zu kommen, sondern vor allem wegen der Rollen, die mit der Aufgabe als 1.Solotänzerin zukommen. Alle positiven Gefühle kommen zusammen, und es ist überwältigend, die Gefühle sind sehr stark und natürlich bin ich sehr glücklich. Ich fühle mich vollständig, und all die Schmerzen, die psychologischen Herausforderungen, die Enttäuschungen, die Verletzungen sind für diesen Moment verschwunden. Sie treten in den Hintergrund durch all die positiven Gefühle, die mit dem Avancement gekommen sind. Natürlich ist jetzt die Verantwortung viel grösser als zuvor, weil als 1. Solotänzerin tanzt man ausschliesslich grosse Partien, und man trägt diese grosse Verantwortung zusätzlich auf den Schultern – natürlich hat jede Rolle ihre Verantwortung, aber die Hauptrolle zu tanzen, ist nochmal was anderes. Von meiner Einstellung her hat sich nichts geändert, ich arbeite weiterhin gewissenhaft, ich werde nach wie vor meine Technik noch mehr perfektionieren, meine Persönlichkeit weiter entwickeln, dass ich als Tänzerin und als Künstlerin weiterwachse, und als Person ebenfalls. Und ich glaube, jeder Künstler hat diese Aufgabe, sich weiterzuentwickeln, sich selbst, aber vor allem auch das Publikum zu respektieren.
KG: Was ich an Ihrer Interpretation sehr schätze und bewundere, besonders bei Tatjana ist mir das wieder aufgefallen, aber bei der Giselle genauso – Sie spielen nicht die Rolle, in dem Moment, wo Sie auf der Bühne sind, SIND Sie im Fall von Tatjana im 1. Akt genau diese 18 Jahre alt, das 18-jährige Mädchen, das sich zum 1. mal in ihrem Leben verliebt,
und schaffen es auch in den 20 Minuten Pause vom 2. auf den 3. Akt 10 Jahre reifer – älter wäre nicht das passende Wort – zu sein und genau den Charakter, was macht die zehn Jahre Lebenserfahrung, im 3. Akt zu repräsentieren. Dasselbe durfte das Publikum bei Giselle erleben, da waren Sie im 1. Akt das herzkranke liebenswerte Bauernmädchen, das dem Wahnsinn verfällt und im 2. Akt ein Geist. Wie bereiten Sie sich auf solche darstellenden Partien vor?
IA: Wenn ein Tänzer die Rollen wahrhaft tanzt, muss er oder sie – leider oder zum Glück – diese Erfahrungen auch im eigenen Leben gemacht haben. Zumindest auf eine Art. Natürlich muss einem nicht gleich das Herz brechen, das wünsche ich niemandem, aber zumindest ein bisschen von dieser Realität, dass man es dem Publikum vermitteln
kann. Und natürlich kommt das auch mit dem Alter. D.h. je älter ein Tänzer wird, desto mehr Lebenserfahrungen hat er/sie. Und es ist leichter, das zu interpretieren, wenn man selbst ähnliche Erfahrungen gemacht hat. Wenn man gerade mit 19 Jahren sein erstes Engagement antritt, und dann Giselle oder Tatjana tanzen soll, weil man talentiert ist, wird man feststellen, es ist nicht ihre Schuld, aber sie ist noch nicht soweit, sie hat noch nicht die Lebenserfahrung, die solche Rollen erfordern. Folglich braucht man eine gewisse Lebenserfahrung. Zur Frage, wie ich mich auf die darstellenden Partien vorbereite, es ist mir ein Anliegen, mit der Originalfassung und der Authentizität der Stücke respektvoll umzugehen. Leider gibt es im Ballett nicht immer schriftliche Quellen, einige Choreographien sind nicht transkribiert, man nimmt die Videos, man lernt von den Coaches, die es früher getanzt haben. Und es ist schade, weil über die Jahre kann sich alles ändern, von Mensch zu Mensch, von Mund zu Mund, von Tänzer zu Tänzer.
Also versuche ich jedesmal, so weit wie möglich zurück zu gehen, zu den Originalversionen, recherchiere nach Videos, ich frage Leute, die es getanzt haben, damit ich so nah wie möglich an die Originalversion und Authentizität eines Stücks komme. Natürlich ist es viel leichter mit modernen Werken, weil dann hat man den Choreographen
oder die Choreographin direkt vor sich, man kann Fragen stellen, man wird gecoacht, dies zu den lebenden Beispielen. Wenn eine Choreographie älter ist, wie die grossen klassischen Ballette, wird es viel schwieriger, weil es keinen Beweis gibt. So sehr es in meinen Händen liegt, versuche ich wirklich die Hintergründe herauszufinden, was ist zur Entstehungszeit passiert, wie ist es passiert, die Geschichte des Balletts, die Geschichte der Musik, was ist passiert, als das Stück kreiert wurde, ist ein Krieg gewesen, war eine Pandemie, oder was auch immer, was die Choreographen und Musiker dazu bewogen hat, gerade dieses Stück zu kreieren zu dieser Zeit, z.B. vor 100 Jahren. Es ist wirklich wichtig, dass man das Umfeld betrachtet, nicht nur die Handlung des Stücks, sondern was ist um das Stück herum geschehen, weil das ist auch der Einfluss der Leute, die diese Stücke komponiert oder choreographiert haben. Im Fall von Tatjana – natürlich habe ich das Buch gelesen, ich habe auch das Original von Puschkin, welches meine Eltern mir übersetzt haben, Seite für Seite jeden Tag, sie sprechen Russisch, sie haben dort studiert, und ich habe natürlich die Englische Übersetzung, aber ich wollte die wortwörtliche Übersetzung von Puschkin wissen. Und ich sah sehr wohl einen Unterschied, der Sinn machte – manche Wörter sind nicht zu übersetzen, oder wurden anders übersetzt. Und natürlich habe ich das Buch nicht nur einmal, sondern mehrmals gelesen, und entdeckte jedesmal neue Dinge. Tatjana hat ihre komplizierten Seiten, ist aber ein reiner, und sensibler Charakter. Das hat mir auch sehr geholfen, die Jahre in den 20 Minuten Pause zu überbrücken, am Anfang ist sie ja 18 Jahre alt, und dann zehn Jahre älter. Und auch ich bin einmal 18 gewesen, und genauso 28, da kann ich die Relation nachvollziehen, ich habe mich erinnert, wie ich in diesem Alter war, und wie ich das erste Mal verliebt war. Man arbeitet daher genauso an sich selbst, man entdeckt die Vergangenheit wieder. Und wenn man mit dem Werk respektvoll umgeht, kann man nie falsch liegen, ebenso mit einer objektiven, wahren Übersetzung. Und natürlich habe ich die Videos gesehen, ich habe mit einigen Tänzerinnen gesprochen, die Tatjana getanzt haben, ich habe gefragt, warum sie z.B. ihre Wange berühren, oder auf ihr Herz deuten, dass es einen Grund dahinter hat. Ich habe zudem auch viel vor dem Spiegel gearbeitet und mich gefilmt, um von aussen meinen Ausdruck zu sehen. Manchmal denkt man, man ist ausdrucksstark, aber es ist doch zu wenig, oder es wirkt unfreiwillig komisch, oder anders, als man beabsichtigt. Generell ist das meine Vorbereitung, für jedes Ballett, das ich tanze, und natürlich werden wir in der Staatsoper von unseren Ballettmeister hervorragend gecoacht, wir hatten bei „Onegin“ auch das Vergnügen mit Reid Anderson (Anm.: Stuttgarter Ballett), das war besonders wichtig für mich, weil Anderson mit Cranko persönlich gearbeitet hat. Was dazu kam, war auch die eigene Gesundheit, vor allem die mentale, immer positiv dem Stück gegenüber zu stehen, auch wenn nicht jede Probe perfekt lief, die Schwierigkeiten herauszuarbeiten, und darauf zu vertrauen, dass es am nächsten Tag besser lief. Die psychologischen Gründe spielen ebenfalls eine grosse Rolle im gesamten Werdegang.
KG: Wie war es, wenn Sie Kolleginnen, die z.B. Tatjana schon getanzt haben, um Rat gefragt haben? Man hört ja oft von erbittertem Konkurrenzkampf, oder auch dass manche Lehrer bewusst nicht alles weitergeben, damit sie immer besser bleiben als ihre Schüler.
IA: In meinem Fall muss ich sagen, dass ich sehr faire Kolleginnen habe, die es nicht auf Geheimniskrämerei angelegt haben. Das ist schon ein sehr grosses Glück. Was sie mir weitergegeben haben, war auf jeden Fall sehr hilfreich, und ich weiss es sehr zu schätzen. Und ich hoffe, dass ich genauso helfen kann, wenn eine Kollegin mich um Rat fragt. Ich freue mich, wenn ich meine Erfahrungen weitergeben kann.
KG: Welche Partie tanzen Sie am liebsten?
IA: Lieblingsrolle… Mit Tatjana ist mein bisher grösster Traum in Erfüllung gegangen. Und Gottseidank habe ich noch einige aktive Jahre vor mir, in denen sich weitere Träume erfüllen können, ich würde mich natürlich über Schwanensee oder Don Quixote freuen. Eigentlich alles, was sich eine klassische Ballerina wünscht. (lacht) Ich hoffe, das Glück und die Zeit zu haben, diese Partien auch zu tanzen. Aber wie gesagt, ich habe noch einige aktive Jahre vor mir.
KG: Was mir in den letzten Jahren aufgefallen ist – gut waren Sie schon immer – Sie haben Ihre Technik noch mehr verfeinert, und vor allem darstellerisch haben Sie sehr rasch sich von Ihren Kolleginnen abgehoben – viele bleiben ja die ganze Karriere in den „Liebmädi-Charakteren“, etwas hart gesagt, mit solider Technik und einem hübschen Gesicht kann man ja erfolgreich diverse Freundinnen von Kitri, Raymonda, oder ähnlichem, aber auch die Hauptrollen in Coppélia oder Nussknacker tanzen. Bei einem Schwanensee merkt man hingegen gleich, ob Tiefgang vorhanden ist, oder ob man einfach eine gute Technik hat und die 32 Fouettés locker schafft. Und für Partien, wie eben die Tatjana, aber auch Manon oder Giselle Rouge, oder genauso die Romola Nijinsky, steht vor allem die Ausdruckskraft und Reife im Vordergrund. Was war Ihre erste dramatische Partie und wie haben Sie in diese Rollen gefunden?
IA: Eine wichtige erste grosse Partie war die Vivette in „L’Arlesienne“ von Roland Petit. Da tanzte ich gemeinsam mit Kiril Kourlaev. Ich muss sagen, ich habe mich schon immer viel wohler gefühlt, darstellende Partien zu tanzen, für mich war es viel authentischer, diese Stücke zu tanzen, als rein technische, die ich natürlich auch getanzt habe.
Selbstverständlich ist eine gute Technik ein Muss in unserem Job, ohne Technik kommt man nicht weit, aber der Unterschied zwischen einer guten Tänzerin und einer Künstlerin ist die Interpretation, ihre Emotionen, die Art, wie sie ihre Geschichte dem Publikum erzählt. Es ist wichtig, das Publikum genauso zu sehen und zu respektieren, sie sind alle
in die Vorstellung gekommen, um z.B. einen schönen Abend zu verbringen, die Vorstellung zu geniessen, ein paar Stunden die eigenen Sorgen zu vergessen, da gibt es viele Gründe, warum Menschen sich eine Ballettvorstellung anschauen. Und ich glaube kaum, dass jemand in die Vorstellung kommt um zu überprüfen, ob die 5. Position perfekt
ist, ob alle Pirouetten sauber gedreht werden, ich glaube, das ist eher irrelevant. Natürlich gibt es ein Ballettpublikum, das von Technik wirklich was versteht, ob die Balancen stimmen, die Pirouetten, die grossen Sprünge etc., aber es ist nicht genug. Für mich ist es nicht genug, eine perfekte Technik zu haben. Man braucht noch mehr, um fähig sein, eine
Geschichte zu erzählen. Das nenne ich Kunst, Persönlichkeit.
KG: Unlängst habe ich ein Video von Margot Fonteyn als Dornröschen gesehen – natürlich eine unglaubliche Ausstrahlung, aber vergleicht man ihre Technik mit heute, würde es wahrscheinlich bei einem Vortanzen eng werden.
IA: Dazu muss man sagen, Margot Fonteyn ist in ihrer Zeit einzigartig gewesen, sie war damals eine Revolution in ihrer Leistung, und sie wird immer eine Legende bleiben. Natürlich hat sich die Technik im Ballett in den letzten Jahrzehnten sehr weiterentwickelt, das hängt auch damit zusammen, dass sich der Mensch weiter entwickelt, wir bleiben nicht 100 Jahre lang im gleichen Lebensstil. Dennoch ist mir persönlich immer wichtig gewesen, die Tradition wertzuschätzen. Klar, wir sind heutzutage weiter, wir haben resistentere Körper, wir tanzen viel länger, als früher, wir haben viel mehr Unterstützung rundherum, was auch unterschätzt wird: die Spitzenschuhe haben eine viel bessere Qualität, die Böden genauso, also eine Menge hat sich geändert, verbessert. Und gerade deswegen sehe ich es auch als unsere Verantwortung, das Original nicht unter den Tisch zu kehren.
KG: Demnächst sind Sie als Fliederfee in der UA von Martin Schläpfers „Dornröschen“ zu erleben. Wieviel dürfen Sie schon verraten, bzw. wenn Sie von der klassischen Rolle der Tatjana auf diese Rolle wechseln, was ist anders? Wird es mit Spitzenschuhen getanzt?
IA: Es ist sehr vielseitig choreographiert, ich tanze mit Spitzenschuhen, mein Part ist grösstenteils klassisch, also muss ich meine Routine nicht ändern, um die Rolle zu tanzen, nachdem es sehr ähnlich zu unserem Training ist. Wenn ich vergleiche mit Juni – da tanzte ich bei der Nurejew Gala ein sehr modernes Stück – das war ein ganz anderer
Arbeitsprozess. Wenn ich Tatjana und die Fliederfee vergleiche, so gibt es technisch gesehen keine grossen Veränderungen in der Probenarbeit. Auf jeden Fall freue ich mich sehr auf die Vorstellungen, am 7. November ist meine erste Vorstellung, da habe ich noch gut Zeit, mich vorzubereiten, aktuell ist der Fokus natürlich auf der Premierenbesetzung. Es wird auf jeden Fall eine schöne, neue Erfahrung.
KG: Also stilistisch gesehen ist es jetzt nicht so ein grosser Bruch, wie wenn Sie an einem Abend z.B. einen Balanchine und am nächsten Abend Skew Whiff tanzen?
IA: Nein, es ist schon ähnlich. Natürlich ist es nicht dasselbe, auch vom Charakter her nicht, aber technisch gesehen ist es keine Umstellung des Körpers, wie z.B. Skew Whiff und Schwanensee, oder Forsythe und dann Balanchine, wo der Körper komplett umstellen muss.
KG: Sie haben ja die Julia von Bombana getanzt, und genauso einen Pas de deux aus Nurejews Romeo und Julia. Meine persönliche Lieblingsversion (aus dem Publikum!) ist die von Cranko. Bei Dornröschen von Sir Peter Wright haben Sie eine der sechs Feen getanzt, während die Fliederfee in dieser Version einfach elegant auszusehen und schöne Armpositionen hatte. Ich nehme an, bei Schläpfer wird die Fliederfee mehr beschäftigt sein. Aber generell, wie geht es Ihnen dabei – gleiche Musik, komplett andere Choreographie?
IA: Es ist für mich eine mentale Arbeit, wie ich bereits gesagt habe, die Tradition ist mir sehr wichtig. Aber mir ist auch bewusst, dass man über den Tellerrand schauen muss, auch dies lässt einen als Künstler:in wachsen. Es gibt verschiedene Herangehensweisen, wie man eine Musik in Tanz umsetzt, und meine Aufgabe ist, in den jeweiligen Versionen authentisch zu sein. Als Tänzerin habe ich mich nie eingeschränkt gefühlt, das ist auch mit ein Grund, warum mein Repertoire sehr breitgefächert ist. Es sind nicht nur die klassischen Rollen, oder nur die modernen Rollen, es sind alle Aspekte vorhanden, und mein Körper und meine Seele können sowohl mit klassischen Stil, Neoklassizismus, broken lines etc. umgehen, es ist für mich wichtig, diese zu beherrschen, das macht mich auch als Tänzerin aus, dass ich nicht nur in einem Stil gut bin.
KG: Welche Choreografien tanzen Sie am liebsten, bzw welche Choreographen haben Sie besonders inspiriert?
IA: Da sind vor allem Paul Lightfood und Sol Leon zu nennen, ich habe zwei Werke von ihnen getanzt (Anm. Skew Whiff und Source of Inspiration), und hatte auch das Glück, die erste Besetzung zu sein. Sie sind in der modernen Tanzszene sehr berühmt und von grosser Wichtigkeit, und es war für mich eine wunderbare Erfahrung, mit ihnen zu arbeiten und
von ihnen ausgewählt zu werden. Es macht natürlich einen Unterschied, wenn der Choreograph noch lebt und einem direkt mitteilen kann, wie er sein Werk umgesetzt haben möchte. Bei Choreographien von William Forsythe, David Dawson, Jiri Kylian, Nacho Duato war ich auch sehr glücklich, gecastet zu werden, und deren Vision des Tanzes kennenzulernen. Die Liste ist sehr lang, aber das ist auch die Schönheit unseres Jobs, dass man, dadurch dass man deren Werke tanzt, so nahe an der Künstlergeschichte sein kann. Die Choreographen haben Geschichte geschrieben.
KG: Die Avraams – möchten Sie über Ihr Projekt erzählen?
IA: Es war in erster Linie eine Idee meiner Schwester, die ebenfalls Tänzerin ist, sie ist moderne Tänzerin bei Gauthier Dance in Stuttgart, und sie meinte, wir sind, wer wir sind, wir arbeiten im Ausland, wir hatten nicht viele Möglichkeiten in Zypern, als wir in der Ausbildung waren, wir sind viel ins Ausland gereist, um Erfahrungen zu sammeln, Leute
kennenzulernen, andere Tänzer zu sehen, Wissen zu erwerben, wir sind zu vielen Wettbewerben gefahren, vor allem sind wir sehr viel gereist und kamen immer zurück mit einem Koffer voll Erfahrungen, Wissen, technische Fortschritte, künstlerische Fortschritte, Freunde, und unsere Initialzündung war, dies auch in Zypern zu haben, dass man diese Erfahrungen Studierenden vor Ort weitergeben kann, dass sie nicht so viel reisen müssen. Natürlich sind die Erfahrungen, ins Ausland zu reisen, neue Länder kennenzulernen, an Workshops teilzunehmen wertvoll, einmalig, und man sollte dies auch tun, aber warum sollte man diese Möglichkeit nicht auch in Zypern anbieten? Es kostet ja
auch nicht gerade wenig Geld, ins Ausland zu reisen, also von allen Aspekten dachten wir, es ist gut, wenn wir eine Ausbildungsmöglichkeit auf internationalem Niveau auch in Zypern haben. So haben wir begonnen, wir machen den Workshop seit 2018, und es hat grossen Anklang gefunden, wir haben viele Studierende, auch von Deutschland kommen einige Élèves (Schüler) her, wir werden sehen, wie wir expandieren können. Uns ist auch wichtig, gerade den zypriotischen Élèves bewusst zu machen, wie ein professioneller Ballettänzer arbeitet, auch in einem späteren Stadium, deswegen sind unsere Unterrichtszeiten von 10-17:30, jeden Tag, für 10 intensive Tage, oder 2 Wochen.
Die Élèves haben die Gelegenheit, professionelle Tänzer kennenzulernen, welche ihre Karriere im Ausland machen. Wir laden nicht nur Pädagogen, sondern auch aktive Tänzer ein, damit die Élèves das professionelle Leben miterleben, z.B. wie ist der Tagesablauf einer Ballerina. Wir laden große Namen ein, sowohl von der klassischen, als auch der modernen Tanzszene, wir versuchen soviel Wissen wie nur möglich weiterzugeben, und wir haben auch den Plan, zu expandieren, neue Aspekte von anderen Kulturen miteinzubinden, aber noch sind wir auf Workshop-Level. Wie auch immer, Zukunftsträume haben wir und aktuell bieten wir den Workshop aufgrund unserer Engagements nur im Sommer an. Das ist die einzige Zeit, die wir länger in Zypern verbringen können. Aber es ist nicht einfach ein Sommerkurs für ein Hobby, sondern eine sehr intensive Zeit.
KG: Sie haben ja Ihre Ausbildung in Zypern und in München genossen – was hat Sie nach Wien verschlagen?
IA: Zunächst habe ich meine Ausbildung in Zypern begonnen, als ich vier Jahre war, ich habe dann die reguläre Schule besucht, und nachmittags und abends war Ballettunterricht, weil wir haben in Zypern keine Balletttradition, wie man sie in anderen Ländern kennt, es war vor allem mein eigener Wunsch zu tanzen. Mit 16 Jahren bin ich dann zum Prix de Lausanne gekommen, ich kam ins Finale und erhielt dadurch die Chance, meine Ausbildung in München bei der Heinz Bosl Stiftung fortzusetzen. Danach gingen die Auditions los, ich hatte sowohl vom Bayerischen Staatsballett, als auch von Wien das Jobangebot. Mein Herz schlug für Wien und so bin ich nach Wien gekommen. Das war die Stadt, die mir gefallen hat, und wo ich leben und arbeiten wollte. Es war keine schwierige Entscheidung, es war mein Instinkt. Natürlich hätte ich ein anderes Leben gehabt, wenn ich einen anderen Weg eingeschlagen hätte, aber ich kann weder die Zukunft voraussagen, noch die Vergangenheit ändern, also, hier bin ich.
KG: Die Ballettwelt ist zwar in den meisten Companys international, aber an der Spitze erlebt man doch hauptsächlich Tänzer aus Russland, der Ukraine, Korea, Japan, Frankreich, je nach Company, hier in Wien haben wir auch Italien (und vor Direktionswechsel Österreich, Schweden), die Schweiz, Kanada, Moldawien, Brasilien und Georgien vertreten, was die Ausbildung betrifft, so finden sich in den Lebensläufen oftmals die Waganowa-Akademie in St. Petersburg, die Heinz Bosl Stiftung in München, oder die John Cranko Schule in Stuttgart, Dänemark, und natürlich Paris, sowie ABT und auch Kanada/Vancouver. Viele werden beim Prix de Lausanne entdeckt und von dort aus in Junior Compagnien aufgenommen. Einen Facebook Artikel habe ich gesehen, Sie werden in Ihrer Heimat sehr gefeiert. Sie erwähnten vorhin ja auch, dass die Balletttradition (noch) nicht so Fuss gefasst hat in Zypern.
IA: Ja, die Mentalität ist anders, Kultur ist nicht so sehr in unserer Natur und im Alltag verankert. Natürlich hat sich über die Jahre einiges geändert, und vor allem im modernen Tanz gibt es jetzt mehr Angebote, aber nach wie vor könnte es noch mehr sein. Ich hoffe, dass meine Beförderung eine Motivation für die Entscheidungsträger in Zypern ist, die Kultur noch mehr zu fördern, und nicht nur einen Newsletter auszusenden.
KG: Gerade wenn man in einem Land aufwächst, wo die Balletttradition nicht so sehr verankert ist, wie findet man zu dieser Berufung?
IA: Das war auch nicht schwer, ich habe schon immer gewusst, was ich will, meine Eltern haben realisiert, dass ich das Tanzen liebe, deswegen haben sie mich mit vier Jahren in die Ballettschule geschickt, und ich hatte das Glück, dass meine Lehrerin auch meine Tante war, sie war Tänzerin und ist eine ganz tolle Lehrerin, sie hat mich geduldig und
wertschätzend unterrichtet, und sie hat mir eine sehr gute Basis, und sehr gute Technik mitgegeben, wofür ich sehr dankbar bin. Das war entscheidend und bestärkte mich in meinem Willen, Tänzerin zu werden. Natürlich gab es all die Jahre immer wieder Momente des Zweifels, des Aufgebens, aber meine Liebe zum Tanz war immer größer.
KG: Was war bisher die grösste Herausforderung für Sie zu tanzen?
IA: Jede Rolle ist eine Herausfoderung, jede Rolle ist unterschiedlich, jede Rolle ist wichtig, und das ist das Schöne daran, dass man ein breitgefächertes Repertoire hat, um verschiedene Stile, bzw. Rollen zu tanzen, in andere Charaktere zu schlüpfen, das ist ein großes Geschenk, welches Sänger, Schauspieler, Tänzer aufgrund ihres Berufs haben.
KG: Viele Tänzer gehen nach Beendigung ihrer Karriere ins Unterrichten, wenige schaffen den Sprung als Choreograph, manche werden Ballettdirektor, manche werden Physiotherapeuten, andere gehen auf Weltreise – wo sehen Sie sich in 20 Jahren?
IA: Das ist eine gute Frage! Momentan bin ich im Endspurt des Fernstudiums für eine Ballettpädagoginnenausbildung. Es ist gut, ein Backup für die Zukunft zu haben, und nicht zuletzt auch weil wir die Sommerschule haben, ist es eine große Verantwortung, mit Kindern und Jugendlichen zu arbeiten. Die ganzen pädagogischen Aspekte sind heutzutage wichtiger denn je, natürlich kann ich ein Training zusammenstellen, das tänzerische Wissen ist ja vorhanden, aber das pädagogische Wissen gehört genauso dazu. Das war ein Hauptgrund, dieses Diplom zu machen, und auch für die Zukunft. In 20 Jahren… beruflich kann ich nichts voraussagen, aber ich möchte in der Tanzszene bleiben. Privat möchte ich gerne eine eigene Familie gründen. Ja, wir werden sehen, was die Zukunft bringt.
KG: Aber im Hier und Jetzt als 1. Solotänzerin – und ein bisschen Zukunftswünschen – welche Partien stehen auf Ihrer Wunschliste?
IA: Alle! Was immer kommt… Schwanensee, Don Quixote… es ist sowohl eine schwierige, als auch eine leichte Antwort: Alle!
KG: Liebe Frau Avraam, vielen Dank für das Gespräch!