Köln: Schubert, unterschiedlich beleuchtet

Daniel Behle, WDR Sinfonieorchester & Brad Lubman

Ein „Winterreise“-Abend von dreieinhalb Stunden. Wie das? Nun, der Westdeutsche Rundfunk präsentierte im Großen Saal seines Hauses am Wallraffplatz zum einen den Schubert‘schen Liederzyklus in der „komponierten Interpretation“ Hans Zenders, wo schon mal orchestrale Ausweitungen die Originalkomposition wesentlich strecken. Voraus ging dem Konzert im Kleinen Sendesaal das „Quartett der Kritiker“, welches Aufnahmen der „Winterreise“ verglich. Dieses Quartett besteht aus Mitarbeitern beim „Deutschen Schallplattenpreis“, allen voran die Vorsitzende Eleonore Büning, weiterhin Mitgliedern aus den jeweils passenden Wertungs-Jurys. Besonders interessant wäre Jürgen Kesting als Diskutant gewesen, aber der sagte ebenso ab wie Albrecht Thiemann. Doch es konnten unschwer adäquate Einspringer gewonnen werden, nämlich Wolfgang Schreiber und Michael Stegemann. Weiterhin in der Runde: Stephan Mösch, einstiger Chef der Zeitschrift „Opernwelt“.

In ihrer Anmoderation ließ Frau Büning wissen, daß es von der „Winterreise“, vorsichtig geschätzt, 500 Einspielungen gibt. Das ist nicht nur ein Verweis auf die außerordentliche Beliebtheit des Werkes, sondern auch auf die nahezu unausschöpfbaren Interpretationsmöglichkeiten.

Eines der ersten Musikbeispiele (alle wurden individuell ausgesucht von den Diskussionsteilnehmern) war die Einspielung von Dietrich Fischer-Dieskau und Herta Klust (1951/52). Der „Meistersinger“ in Sachen Lied gehört zu den absoluten Koryphäen im Bereich der Vokalkunst, war und ist aber nicht gänzlich unumstritten. Manche rhetorische Details bei seinen Interpretationen werden als überspitzt empfunden. Mitunter trifft dieser Vorwurf heute auch Christian Gerhaher, der seine ausgepichte Diktion jedoch wunderbar in den Fluß einer Vokallinie integriert und auf diese Weise geradezu magische Wirkungen erzielt. Nicht jeder in der Diskutierrunde empfand das freilich in gleicher Weise. Für die Interpretationsästhetik vor 1945 wurde eine Aufnahme von Heinrich Rehkemper herangezogen (1928 – Begleiter: Komponist Manfred Gurlitt), die emotional einigermaßen hypertroph und damit leicht vergilbt wirkt. Lediglich erwähnt wurde in diesem Zusammenhang Heinrich Schlusnus, der sich von Rehkempers emotionalen Übertreibungen zwar fern hält, aber auch etwas altväterlich wirkt. Besonderen Eindruck machte eine 1945 bei der Reichsrundfunkgesellschaft entstandene Einspielung mit Peter Anders und Michael Raucheisen, die Stegemann freilich als zu opernhaft kritisierte. Den anderen gefiel aber gerade diese Art des leidenschaftlichen, dabei enorm disziplinierten Singens.

Über den Rang der vorgestellten Einspielungen waren sich die Diskutanten auch sonst nicht immer einig, was die Gespräche freilich belebte. Besonders fundiert wirkten die Auslassungen von Mösch, selber ausgebildeter Sänger. Stegemann sieht die Fischer-Dieskau-Zeit als mittlerweile „überwunden“ an, was etwas stark von oben herab kommentiert wirkte. Wesentlich stärker sympathisierte man mit der Erklärung von Frau Büning, welche mit der Interpretation von Christoph Prégardien und dem Hammerflügel-Spezialisten Andreas Staier (1996) ein neues Tor der Interpretation ausgestoßen sieht. Sehr kontrovers wurde die Aufnahme von Christine Schäfer (2003) beurteilt, was aber nicht auf eine generelle Ablehnung von weiblichen „Winterreise“-Interpreten hinauslief. So gab es ausgesprochen positive Voten beispielsweise für Lotte Lehmann/Paul Ulanowsky (1940) und Brigitte Fassbaender/Aribert Reimann (1988).

Stegemann wartete mit einigen außenseiterischen Aufnahmen auf, so der durch Herman van Veen, welche freilich nicht für die gesamte „Winterreise“ gepaßt hätte. Er wies auch darauf hin, daß sich ein Wolf Biermann von Schubert sehr inspiriert sah. Die traditionsverweigernde Annäherung an diesen Komponisten und in Sonderheit seinen „Winterreise“-Zyklus muß nicht partout absolute Überzeugungsarbeit leisten, kann seiner Meinung nach aber entscheidende Überlegungen in Gang setzen. Das letzte Musikbeispiel des Diskussionsabends galt Christoph Prégardiens Sohn Julian, welcher im letzten Jahr die Version Hans Zenders aufgenommen hat. Damit war auf elegante Weise ein Übergang zum nachfolgenden Konzert gegeben.

Es wurde bestritten vom WDR Sinfonieorchester, geleitet von Brad Lubman, einem Spezialisten für zeitgenössische Musik, hier aber ein hellhöriger, eminent feinfühliger Schubert-Interpret. Solist war Daniel Behle. Vor ihm mußte man an diesem Abend niederknien. Was der Mittvierziger an vokaler Schönheit und Wahrhaftigkeit des expressiven Ausdrucks bot, ließ sich die Zuhörer förmlich im siebten Himmel fühlen. Behle besitzt ein warm flutendes, wunderbar schlankes Organ, welches sich irgendwann – so suggerierten es etliche Ausdrucksmomente – auch dramatischere Aufgaben erobern dürfte.

Der Sänger ist selber kompositorisch tätig, hat beispielsweise für die „Winterreise“ eine Fassung mit Klaviertrio erstellt (Youtube: Hirzenberg Festival 2013 mit dem Oliver Schnyder-Trio). Somit hatte er kaum Schwierigkeiten, sich auf die Zender-Version einzustellen, die freilich großorchestral daherkommt. Hin und wieder empfindet man bei ihr Äußerlichkeiten wie die drei Windmaschinen bei „Mut“ oder das Klopfen auf Holzlatten bei „Einsamkeit“. Auch einige Lontano-Wirkungen wirken etwas gewollt. Doch in toto ist die Zender-Nachschöpfung anregend und fantasievoll in der Instrumentation. Es gibt kaum essentielle Eingriffe in den Gesangspart außer ein paar Textsprengungen oder hier und da einen dynamisch angehobenen Orchestersound, welcher den Sänger zum Mikrophon greifen läßt.

Bei alledem wahrte Daniel Behle die Normgesetze der Vokalkunst. Was er in punkto Pianogesang und rhetorischen Finessen bot, war nichts weniger als mirakulös. Behle gehört fraglos zu den begnadetsten Sängern der Gegenwart, auch seine Repertoirevielfalt nimmt für ihn ein. Durch ihn gewann der Kölner Abend fraglos Ausnahmecharakter.

Christoph Zimmermann 12.3.2019