Berlin: „Die Gezeichneten“

Vorstellung am 10. Februar 2018 (bis ca. 21 Uhr)

Diese Kritik muß leider entfallen. Wir haben es einfach nicht bis zum Ende durchgehalten. Bis zur Pause hatte uns eine bleierne Langeweile in den Sitz gedrückt. Nur die scharfen Spitzentöne, die den schweren, wild tremolierenden Sopran von Ausrine Stundyte von einer Geschmackssache zur Zumutung werden ließen, konnten verhindern, daß wir betäubt vom schweren Parfüm der Musik wegdämmerten. Unerfreulich war auch die Begegnung mit Peter Hoare, dem Sänger der männlichen Hauptrolle. Noch so eine kopfige, halsige Tenorstimme, die sich ohne Körperverankerung im Heldenfach versuchte, mit krähender Höhe und gepreßt-fahler Tiefe. Ein starker englischer Akzent führte zudem zu häßlichen Vokalverfärbungen. Nein, das mochte man sich keinen weiteren Akt antun, auch wenn Stefan Soltesz am Pult des Opernorchesters die exzentrisch-schwüle Musik in all ihren Farben schillern ließ und immerhin Michael Nagy als Bösewicht demonstrierte, was aus diesem Abend musikalisch hätte werden können, wenn nur die beiden anderen Protagonisten über eine ebenso technisch tadellose Stimme samt gestalterischer Prägnanz verfügt hätten.

Dann hätte man einfach die Augen geschlossen und die Musik genossen. Und über den Text hinweggesehen. Den hat nämlich der Komponist selbst verfaßt. Der war zwar ein technisch versierter Tonsetzer, aber ein grauenvoller Dichter. Der verschwurbelte Plot ist bereits grenzwertig. Die betuliche Sprache jedoch, die sich hilflos-umständlich an einem expressionistischen Stil versucht und dabei in gestelztem Satzbau und einem übermäßigen Gebrauch von Partizipialkonstruktionen regelrecht feststeckt, macht das alles schwer verdaulich. Der verkrampft hohe Ton wirkt nicht selten unfreiwillig komisch. Ein Wortwechsel über zu verrichtende Hausarbeit wird schicksalsschwer eingefärbt: „Das Haus voller Gäst? Wer ist da? – Zittere, Bube – der hohe Senat!“ Da zittert neben dem Buben auch noch das Zwerchfell des Zuhörers. Und so geht das die ganze Zeit über. Man wünschte sich, sie sängen in einer fremden Sprache, und die Übersetzungsanlage wäre ausgefallen. Ist sie aber leider nicht. So liest man also gequält die Sprachhubereien mit, auch um nicht andauernd auf die Bühne blicken zu müssen, weil die Inszenierung von Calixto Bieito an trostloser Willkür kaum zu überbieten ist. Im ersten Aufzug stehen sie alle auf weißer, leerer, hell erleuchteter Bühne herum, während im Hintergrund Videobilder gezeigt werden. Das ist ja mal ganz was Neues. Angeblich werden dadurch psychische Abgründe der Protagonisten ausgelotet. Die Grundidee des Regisseurs ist dabei gar nicht mal so fernliegend: Das Stück soll von Kindesmißbrauch handeln. Das tut es tatsächlich, jedenfalls auch. Allerdings ist das eine Reduzierung des Plots. Welche einen in der gewählten Art der Darstellung aber völlig kalt läßt. Und völlig musikfern in Szene gesetzt wird. Rhythmus und Stimmungen der Musik laufen meist am Bühnengeschehen vorbei. Es ist so, als hätte man unter einen Film die falsche Tonspur gelegt. Bieto inszeniert seine Idee, nicht das Stück. Die Musik geht ihm sonstwo vorbei. So wird das nichts mit der angeblichen Schreker-Renaissance.

Wie gesagt, für den zweiten Teil hat uns die Kraft gefehlt, oder die Neigung zum Masochismus. Und deswegen muß diese Kritik leider ausfallen.

Michael Demel, 10. Februar 2018