Berlin: „La traviata“

Premiere am 1.12.2019

Computer-Sex

Was tut ein Regisseur bzw. eine Regisseurin, wenn sie nicht einer konventionellen Regie gescholten werden möchte, der nichts Neues zum Stück eingefallen sei, der/die aber doch die wunderschönen Kostüme und die Beweggründe der Personen beibehalten will? Sie lässt ihren Helden oder ihre Heldin träumen, eine Geschichte erzählen oder sich aus der rauen Wirklichkeit eines bevorstehenden Todes, von dem die Röntgenbilder künden, in die Welt entführen, in der sie digital als kostümierte Liebesdienerin bereits zu Hause ist. Auf der Höhe feministischer Selbstbestimmung stehend, wartet sie auch nicht auf den Tod, sondern begeht Selbstmord. Die Röntgenaufnahmen tauchen immer wieder, so auch als Inventarliste von Violettas Vermögen oder als Alfredos Liebeslohn auf.

Nicola Raab geht noch einige Schritte weiter als ähnlich gestrickte Kollegen, indem sie bereits als „Handlung“ im Programmheft ihre Sicht der Dinge ausgibt, in die Musik durch Generalpausen, nur Gesummtes mit anderer Begleitung als der Verdis anstelle von Gesungenem und durch zusätzliche, nicht von Verdi komponierte Musik vor dem Vorspiel zum dritten Akt eingreift. Bereits beim Betreten des Zuschauerraums wird man von Traviata- Motiven als Hintergrundmusik beschallt. Ob all das daher kommt, dass die Regisseurin verkündet, es gehe ihr um die „Transformation der Publikumserfahrung“, man könnte es auch Manipulation nennen, sei dahin gestellt, ebenso dass Violetta als „Sexobjekt im Internet…zu einer schier unermesslichen Einsamkeit verdammt“ ist. Eine Verlegung der Handlung, zumindest der „Rahmenhandlung“, in die Jetztzeit wird auch damit begründet, dass es noch immer Vorurteile gegenüber Prostituierten gebe, was natürlich nicht abzustreiten ist. Welches Elternpaar würde seiner Tochter wohl diesen Berufswunsch erfüllen wollen, gar dazu raten?!

Opernregie kann kaum noch auf Videos verzichten, so werden auch in dieser Produktion Bilder auf einen Gazeschleier geworfen, solche vom geliebten Alfredo aus Violettas Traumwelt, aber auch Filmsequenzen von Verfilmungen des Dumas- Romans, so mit Greta Garbo. Bühnenbildnerin Madeleine Boyd lässt den Zuschauer zunächst auf eine Wand aus milchichweißem Glas mit Metallverstrebungen des Zweiten Kaiserreichs blicken. Dahinter können sich heimliche Beobachter oder nackte Gestalten tummeln. Hebt sich die Wand, sind die unverputzten Backsteinwände der Bühne bloßgelegt. Gegen Schluss fällt auch mal ein Riesengemälde eines Höllensturzes hinunter und entschwebt wieder. Warum? Der Chor, männliche Voyeure und weibliche Models in schwarzen historischen Kostümen (für dieses Laster scheint es einen großen Markt zu geben) singt schön und eindrucksvoll wie immer (David Cavelius), ergeht sich aber meistens in Rucki-Zucki-Bewegungen. Nicht durchgehend angenehm ist, was aus dem Orchestergraben unter Ainārs Rubiķis heraufklingt, der oft zu laut und unausgeglichen in den Tempi ist.

Schon einmal optisch eine Idealbesetzung ist das liebende Paar, dazu kommen noch höchste Erwartungen erfüllende vokale Leistungen. Personenführung allerdings wurde zumindest dem Tenor Ivan Magri überhaupt nicht zuteil, während Arie und Cabaletta steht er hilflos an der Rampe, und obwohl er seine Arie mit gut tragendem, hell timbriertem und dadurch sehr jugendlich klingendem tenore di grazia ordentlich singt, die Cabaletta zudem nach oben mit sicherer Höhe und insgesamt geschmackvoll phrasierend, gab es kaum Szenenbeifall, wie überhaupt an diesem Abend erst nach Ende der Vorstellung Begeisterung laut wurde. Günter Papendell konnte in anderen Baritonpartien sehr gefallen und hat seine Fans im Publikum. Als Padre Germont war er fehlbesetzt, klang dröhnend, ungeschlacht, ohne Legatokultur und war auch darstellerisch von der Regie schlecht behandelt worden mit Rückwärtsgang im Totengräberhabit. Eine anmutige Violetta ist Natalya Pavlova mit jugendlichem lyrischem Sopran, der besonders im „É strano“ und im zweiten Akt glänzen konnte, aber auch „Sempre libera“ und den letzten Akt angemessen bewältigte. Was für ein schönes Kostüm (Annemarie Woods) die Flora von Maria Fiselier hatte, konnte man wegen des vorherrschenden Halbdunkels auf der Bühne erst beim Schlussapplaus bewundern. Sie und die im strengen modernen Hosenanzug auftretende Annina von Marta Mika trugen mit warmen, runden Stimmen zum Erfolg des Abends bei. Auffallend angenehm klangen auch der Tenor von Alexander Fedorov (Giuseppe) und der Bass von Changdai Park (Kommissionär). Eine sehr würdige, wenn auch von der Regie zum Unbeteiligtsein verurteilte Erscheinung war der Grenvil von Philipp Meierhöfer.

Der Abend war ein rauschender Erfolg für alle, die Begeisterung allgemein, für den Rezensenten nur ein neuer Versuch, ein in jeder Hinsicht stimmiges Meisterwerk in das Prokrustesbett einer ideologieträchtigen „modernen“ Weltsicht zu zwängen.

1.12.2019 Ingrid Wanja