Berlin: „Orfeo ed Euridice“

Premiere am 23.1.2022

Superstimme in der Plastikhölle

Das größte Problem bei der Inszenierung von Glucks Orfeo ed Euridice für den heutigen Regisseur dürfte das dem erzherzoglichen Geburtstagskind bei der Wiener Uraufführung wie dem königlichen Hochzeitspaar in Parma bei der erneuten Aufführung geschuldete Happy End sein, das die trostlose, aber erhabene Tragik der griechischen Sage zugunsten einer banalen Deus-ex-Machina-Lösung ablöst. In der Deutschen Oper war das in den Achtzigern für Achim Freyer noch kein Problem, er ließ die Gesellschaft um den griechischen Sänger fröhlich singen und tanzen, und die leuchtend roten Hosenträger des Protagonisten sind unvergesslich. Jürgen Flimm in der Staatsoper im Schiller-Theater hingegen ließ trotz des Happy End Trübsinn walten, indem sich Euridice in einem kleinbürgerlichen Haushalt einrichten muss. Keine erstrebenswerte Rückkehr in die Welt der Lebenden, zwar nicht der Tod der Protagonisten, aber der der Liebe. In der Komischen Oper nun beginnt es schon mit spießigem Ehestress, dem sich der Ehemann Orpheus entziehen will und dazu zwar nicht einen ganzen Berg voller Fluchtkoffer wie unlängst das Ring-Personal an der Deutschen Oper braucht, aber immerhin ein stattliches Exemplar, und Schiesser-Feinripp scheint endlich ausgedient zu haben zugunsten von Krankenhaushemdchen, zum Glück hinten nicht offen, und längsgestreiften Schlafanzügen.

 

Der italienische Regisseur Damiano Michieletto potenziert die bereits durch den Librettisten Calzabigi erfolgte Banalisierung des Mythos noch, indem er nicht eine, sondern gleich vier, nein, zählt man die Asche der Verflossenen in der Urne dazu, fünf Euridici auferstehen und durch ihre Fallsucht die physischen wie psychischen Kräfte des Orpheus herausfordern lässt. Der wird sich hüten, die Reise in die Unterwelt noch einmal anzutreten, sollte Euridice wieder zum Messer und zur Selbstentleibung greifen, wenn er die eheliche Gemeinschaft wieder verlässt. Dass er das vorhat, daran lässt das Schlussbild mit Koffer keinen Zweifel aufkommen, und daran wird auch die optimistischere Darstellung der „Handlung“ im Programmheft nichts ändern, die kühn behauptet: „Orfeo und Euridice sind einander fremd geworden. Es fehlt die Liebe……Die wiedergefundene Lieb hat Orfeo und Euridice wieder vereint“.

 

Zwischen diesen Eckpfeilern ehelichen Trübsinns hat die Regie faszinierende Bilder von den Furien und den Seligen Geistern geschaffen. Die verdammten Seelen sind in unförmige schwarze Plastikplanen verpackt, aus denen sie sich zum Reigen der Seligen nach und nach befreien, und auch Euridice entsteigt nach beiderseitigem Bemühen von Orpheus und Gattin einem Berg der Plastikfolie, Gestalten der heimischen Fauna (Kostüme Klaus Bruns) tanzen über die Bühne, die Alessandro Carletti in sanfte, wechselnde Pastellfarben taucht und auf die sich Paolo Fantin eine Art Riesenkamin herabsinken und heben lässt, um Requisiten und Personal erscheinen und verschwinden zu lassen. Eine feine Personenregie genießt man dank Michieletto nicht nur bei den variationsreichen Versuchen des Orpheus, den Blick der Gattin zu meiden. Weniger überzeugen können eine Krankenschwester in Kniestrümpfen und ein Polizist, dessen Pistol immerhin Dramatik in das Spiel bringt.

 

Das Sensationelle ist an diesem Abend aber nicht die Optik, sondern der Genuss, der den Ohren geboten wird, was aber nicht heißen soll, dass die Augen mit den drei jungen, attraktiven Solisten nichts Angenehmes genießen können. Nie aber hat man eine so vollmundige, so erotisch klingende (Intendant Barrie Kosky nannte es „feucht“), so geschmeidige und farbige, so edel erscheinende Countertenorstimme gehört wie die von Carlo Vistoli, der zudem ungemein virtuos sich in den Verzierungen seiner Da-Capo-Arie tummelte. Dem „Che farò senza Euridice“ vermochte er ganz neue Nuancen zu entlocken, und auch optisch ließ er keinen Wunsch offen.

 

Nicht nur durch eine schöne Sopranstimme behauptete sich Nadja Mchantaf gegenüber ihren Ebenbildern, einen frischen Amore spielte und sang Claudia Greco aus dem Opernstudio. Der vierte Protagonist ist in diesem Werk der Chor, dessen vielfältige Aufgaben vom Vocalconsort Berlin tadellos in vokaler Frische wie Präzision wahrgenommen werden. Das Orchester der Komischen Oper wird von David Bates zu feurigem, akkuratem, federndem Spiel angehalten und versetzt mit dem ersten Akkord in eine freudige Erwartungshaltung, die im Verlauf des kurzweiligen 90-Minuten-Abends nicht enttäuscht wird.

Das Publikum tobte vor Begeisterung.

 

24.1.22 Ingrid Wanja