Coburg: „La Bohème“

Besuchte Aufführung: 15.11.2015 (Premiere: 13.6.2015)

Frohsinn im zerstörten Paris

Zu einem einhelligen Erfolg für alle Beteiligten geriet die Aufführung von Puccinis „La Bohème“ am Landestheater Coburg. Mit diesem Stück, dessen Premiere bereits im vergangenen Juni über die Bühne ging, ist Ks Brigitte Fassbaender an den Ort ihrer ersten Regiearbeit überhaupt zurückgekehrt. Was sie und ihre Bühnen- und Kostümbildnerin Bettina Munzer auf die Bühne gebracht haben, war durchaus beachtlich.

Ensemble, Chor und Kinderchor

Die Damen Fassbaender und Munzer haben die Oper in eine karge, nüchterne Trümmerlandschaft verlegt. Das Einheitsbühnenbild dominieren die Ruinen ehemals ansehnlicher Häuser, in die die verschiedenen Szenen einfühlsam eingepasst werden. Regisseurin und Bühnenbildnerin lassen das Stück in einem zerstörten Paris kurz nach der Befreiung von der Nazi-Terrorherrschaft spielen. Nun mag so mancher diesen Regieeinfall mit der Begründung für verfehlt halten, dass Paris den Zweiten Weltkrieg doch heil überstanden und keine bleibenden Schäden davongetragen hat. Das ist indes nur teilweise richtig. So ganz ungeschoren davongekommen ist die französische Metropole nicht. Zwar wurde Paris von Kommandant Dietrich von Choltitz am 25. 8.1944 nahezu unbeschädigt an die vorrückende Zweite französische Panzerdivision übergeben, aber bereits wenig später, in der Nacht von 26. 8. auf den 27.8.1944, unternahm die deutsche Luftwaffe einen Bombenangriff auf Paris, bei dem cirka 600 Gebäude zerstört oder beschädigt wurden. Demgemäß hat der Einfall des Regieteams, Paris in Trümmern liegend vorzuführen, durchaus seine Berechtigung. Vordergründiger Kitsch wird auf diese Weise vermieden.

Celeste Siciliano (Mimi), Michael Bachtadze (Marcello)

In diesem düsteren Ambiente entfaltet sich der Frohsinn der Bohèmiens nur umso stärker. Den kargen Verhältnissen treten sie mit ausgemachter Ausgelassenheit gegenüber. Dieser wirkt in Frau Fassbaenders Deutung im Gegensatz zu anderen Inszenierungen an keiner Stelle aufgesetzt, sondern stets wahrhaftig. Dabei besteht eigentlich kein Grund zur Heiterkeit. Die Protagonisten leben in größter Armut. Ihr bescheidenes Heim besteht lediglich aus einem Doppelbett mit Nachttisch, einem Stuhl und einer Tonne, in der ein Feuer brennt. Ein im Hintergrund aufgestellter Tisch samt Stühlen symbolisiert das Café Momus. Hier haben Marcello, Colline und Shaunard im ersten Bild bereits Platz genommen, während sich im Vordergrund die Szene zwischen Rodolfo und Mimi abspielt. Offensichtlich kennen sich die beiden seit geraumer Zeit und haben sich schon längst ineinander verliebt. Ihr jetziges Verhalten spricht Bände. Damit befreit Brigitte Fassbaender diese Szene von dem Ballast der Unglaubwürdigkeit.

Anna Gütter (Musetta), Statisterie

Auch diese Absage der Regisseurin an die Liebe auf den ersten Blick ist ein überzeugender Regeinfall, der sich von herkömmlichen Deutungsmustern etwas entfernt, was dem Werk indes gut bekommt. Frau Fassbaender wartet hier schon mit einigen modernen Ideen auf, die ganz im Widerspruch zur Tradition stehen, aber herrlich erfrischend wirken. Das hätte man von ihr nicht erwartet. Durchaus nachvollziehbar lässt sie im demolierten Paris Schmuggler im Trenchcoat und mit Aktentaschen auftreten, die versuchen, ihre illegalen Waren an den Mann zu bringen, was aber gar nicht so einfach ist. Der von der Regie hier nicht zur Karikatur degradierte, sondern ernst genommene Pariser Polizeichef Alcindoro scheint ein scharfes Auge auf die Schwarzhändler zu haben. Mehr Glück hat der Weihnachtsmann Parpignol, der seine Süßigkeiten problemlos an die französische und amerikanische Fahnen schwingenden Kinder loswird. An die Stelle der herkömmlichen Zollstation tritt im dritten Bild eine simple Parkbank, auf der am Ende der Szene die beiden Liebespaare gemeinsam Platz nehmen. Nicht ganz der Konvention entspricht auch der vierte Akt, in dem die Bohemièns in ihrer Ausgelassenheit kurzerhand das Bett abbauen und es auch dann nicht wieder herrichten, als die todkranke Mimi hereintritt. Ihr wird aus Laken und Kissen eine Lagerstatt auf der Erde im linken Teil der Bühne bereitet – auch das war ein Einfall, der für Frau Fassbaender eher untypisch ist. Sie hat ihre Produktion schon mit mancher ungewöhnlichen Idee angereichert, die viel szenische Abwechslung in den Nachmittag brachte.

Michael Bachtadze (Marcello)

Gesanglich bewegte sich die Aufführung auf hohem Niveau. Celeste Siciliano sang die Mimi mit einem in allen Lagen sauber ansprechenden und ebenmäßig geführten lyrischen Sopran, der neben zarten lyrischen Ergüssen auch zu großer Expansion fähig war. Neben ihr war José Manuel ein junger, frisch und aufgeweckt spielender Rodolfo, der seinem Part mit hellem, differenziert und nuancenreich geführtem Tenor auch stimmlich voll gerecht wurde. Lediglich das hohe c am Ende von „Che gelida manima“ hätte man sich noch etwas runder gewünscht. Nichts auszusetzen gab es an Michael Bachtadze, der einen profunden, bestens fokussierten Bariton für den Marcello mitbrachte, den er auch ansprechend spielte. Nicht durchweg schnippisch legte Anna Gütter die Musetta an, vielmehr setzte sie mit ihrem ausgereiften, voll und sonor klingenden Sopran auf lyrische Eleganz, was der Partie gut bekam. Hier wächst eine gute Mimi heran. Einen geradlinigen, solide verankerten Bass brachte Felix Rathgeber für den Colline mit. Sehr ordentlich schlug sich auch der über beachtliches Bariton-Material verfügende Jiri Rajnis als Schaunard. In der Doppelrolle des Benoit/Alcindoro gefiel Michael Lion. Marino Polanco hätte den Parpignol mit etwas runderem Stimmklang singen können. Martin Trepl (Sergeant), Marcello Mejia-Mejia (Zöllner) und Valentin Fruntke (Kellner) rundeten das homogene Ensemble ab. Auf hohem Niveau bewegte sich der von Lorenzo Da Rio exellent einstudierte Opernchor und Extrachor des Landestheaters Coburg.

Am Pult schöpfte Roland Fister aus dem Vollen. Er animierte das bestens disponierte, konzentriert aufspielende Philharmonische Orchester Landestheater Coburg zu einem feurigen, intensiven und temperamentvollen Spiel, das indes leider manchmal etwas zu laut ausfiel und die Sänger in den Klangmassen nicht nur einmal untergehen ließ.

Fazit: Ein in jeder Hinsicht gelungener Nachmittag, der die Fahrt nach Coburg wieder einmal voll gelohnt hat.

Ludwig Steinbach, 17.11.2015

Die Bilder stammen von Andrea Kremper