Flensburg: „La Traviata“, Giuseppe Verdi

La Traviata geht immer. Meist engagieren Theater einen mittelmäßigen und zwei gute (oder umgekehrt) Gäste für die Besetzung der drei Hauptpartien und stellen diese in eine mehr oder weniger gelungene Inszenierung. Schon strömen die Besucher in die Vorstellungen. Nicht so in Flensburg. Oh doch, voll ist das Haus schon, aber das Ensemble besteht in dieser Vorstellung ausschließlich aus hervorragenden Ensemblemitgliedern.

© Landestheater SH

Die Inszenierung stammt von der Operndirektorin des Schleswig-Holsteinischen Landestheaters, Kornelia Repschläger: Schon während des Vorspiels öffnet sich der Vorhang und eine Bühne auf der Bühne (Ausstattung: Angelika Höckner), umrahmt von einem mit zwei Engeln verzierten goldenen Portal, kommt zum Vorschein. Die Seiten und die Rückseite der kleinen Flensburger Bühne sind nicht abgehängt, sondern sie erlauben einen Blick auf Züge, Dirigentenmonitore und ab und zu auch auf den Inspizienten. Auf einer Leinwand erleben wir in großer Dimension mimisch die herzzerreißenden Leiden der Violetta Valery. Im Zusammenspiel mit Verdis Musik gelingt schon diese Eröffnungsszene zu einem emotional tief berührenden Kabinettstück. Sogleich fällt die Leinwand und die auf Stuhlreihen platzierten, dem Publikum ihre Rücken zugewandten Mitglieder des Opern- und Extrachores des Schleswig-Holsteinischen Landestheaters (Einstudierung: Avishay Shalom) bewundern Violetta auf der Bühne. Auch Selfies werden gemeinsam mit ihr gemacht. Offenbar genießt die junge Frau in diesem Mikrokosmos einen gewissen Star-Status.

Schnell wird klar, dass in der Flensburger Produktion die Beziehungen der Charaktere untereinander und die durch diese ausgelösten Emotionen der Protagonistin im Fokus stehen. Dabei wird die eigentliche Geschichte, die in zeitgenössischen, aber stilvollen Kostümen erzählt wird, dennoch schlüssig visualisiert. Vielleicht ist Violettas Kleid das im ersten Akt eine schicke schwarze, mit Applikationen verzierte Robe ist, im zweiten Akt nur noch aus dem mit Fransen verzierten Unterrock und im dritten Akt schließlich nur noch aus dem Unterrock besteht, das stärkste Symbol für ihr aus den Fugen geratenes Leben und die schwindenden physischen und vor allem psychischen Kräfte. Violetta ist aber nicht nur Opfer der Gesellschaft, sondern gestaltet auch aktiv. So positioniert sie beispielsweise im auf dem Landsitz spielenden zweiten Akt ein Reh auf der Bühne und wird so durchaus selbst zur Architektin des Geschehens.

© Landestheater SH

Germont kommt eher als verklemmter Oberlehrer daher, denn als imposante Autorität. Fast schon bekomme ich Mitleid mit ihm, wenn er Violetta darum bittet, Abstand von der Beziehung zu seinem Sohn Alfredo zu nehmen. Dabei hat er offenbar nicht einmal genug Mut, seine Gesprächspartnerin in die Augen zu sehen. Erst im dritten Akt, als er erkennt, was er Alfredo und der sterbenden Violetta angetan hat, stellen sich auch bei ihm sympathische Gefühle wie Reue und Mitleid ein. Zu Beginn dieses Aktes ist Violetta zusammen mit dem Reh in einem scheinbar aus Trümmern (ihres Lebens?) erbauten kleinen Unterschlupf versteckt. Das Reh gilt im Schamanismus als sehr mutig, da es genau weiß, dass es sich wehren kann. In der Regel tut es das aber nicht, da es den sanften und friedlichen Lebensweg bevorzugt. Somit geht es Streitigkeiten und Kämpfen generell aus dem Weg und schützt sich somit selbst auf eine kluge Art und Weise. Ist das nahende Ableben der Titelheldin also eine Schutzreaktion, um den ihr gegenüber emotionslosen Männern zu entfliehen? So viel zur rundum beglückenden Szene, die traditionellen Sehgewohnheiten ebenso gerecht wird, wie Regietheater-Fans zu begeistern vermag.

Noch größere Freude bereitet die musikalische Seite. Die Leitung im Orchestergraben obliegt Martynas Stakionis. Behutsam führt er das Schleswig-Holsteinische Sinfonieorchester im Zusammenspiel mit den Akteuren auf der Bühne zusammen. Nie werden die Sänger vom Orchesterklang übertönt und nur ganz selten erhoffe ich mir eine noch feine abgestimmte Balance zwischen Musikern und Sängern. Von den schwelgerischen Vorspielen des ersten und des dritten Akts, über beschwingte Chorszenen wie in Violettas Salon bis hin zur unweigerlich eintretenden dramatischen Katastrophe am Ende lotet er sämtliche Stimmungen in Verdis Partitur treffsicher aus und scheint dabei den ganzen Abend sehr sängerfreundlich zu gestalten. Kein Wunder, dass der Flensburger GMD, der selbst die Premiere und einige Folgevorstellungen dirigiert hat, bei so einem Teufelskerl im Team entspannt im Publikum weilt.

© Landestheater SH

Małgorzata Rocławska ist Violetta Valery. Sie durchlebt diesen Charakter ohne Kompromisse und steht beim Schlussapplaus schließlich scheinbar selbst mit einer Träne im Auge da, bevor sie den auf sie einbrechenden Jubel erfasst. Im ersten Akt setzt sie ein flirrendes Vibrato ein, was schon rein stimmlich das flatterhafte Leben dieser Dame signalisiert. Das klingt dabei noch wunderschön und die Koloraturen gelangen kraftvoll, harmonisch und sicher. È strano è strano! Ah, fors’è lui che l’anima wird ihr vom Publikum unnötig schwer gemacht, denn in dieser Szene klingelt im Auditorium ein Handy und an der berüchtigten Stelle vor Beginn der Arie klatschen die begeisterten Zuschauer mitten rein. In Kombination ist dies unglücklich, aber die Sopranisten bleibt souverän. Ab dem zweiten Akt singt sie mit weniger Vibrato und glutleuchtendem Sopran. Wer für den verpatzten Einsatz in der Cabaletta Morr, la mia memoria verantwortlich ist, vermag ich nicht zu sagen, aber die Sopranistin überspielt diesen kleinen Fehler sehr galant und dass sie sich davon nicht aus der Ruhe bringen lässt, spricht für die Nervenstärke der noch jungen Sängerin. Der Wechselgesang mit der Oboe in Addio del passato schließlich gelingt so harmonisch wie selten und mit ihrer Gestaltung dieser Arie legt Roclawska schließlich den Grundstein für den bald folgenden Jubel und minutenlangen Beifall.

Oft habe ich es erlebt, dass die Leistung des Tenors neben, der ach so schweren Partie der Violetta deutlich abfällt. Nicht so bei Dritan Angoni als Alfredo. Kraftvoll und ungestüm gibt er mit seinem wohlklingenden Tenor den jungen Liebhaber. Etwas mehr Zärtlichkeit und Schmachten in der vokalen Gestaltung würde seinen Liebesbekundungen noch besser zu Gesicht stehen, aber das kann durchaus noch werden. Seine Cabaletta im zweiten Akt beendet er nicht mit einem hohen C, womit er einen publikumswirksamen Effekt auslässt. Dennoch ist Angoni an diesem Abend zu Recht der zweite große Publikumsliebling. Philipp Franke als Giorgio Germont verfügt über eine für mein Hörempfinden eher helle Baritonstimme, die wunderbar zur Bühnenerscheinung in dieser Inszenierung passt. So unglaublich zärtlich gehaucht habe ich Pura siccome un angelo, als er von seiner geliebten Tochter singt, übrigens noch nie gehört. Franke ist kein typischer Verdi-Bariton und kann gerade deshalb neue Akzente dieser vielschichtigen Rolle ausloten.

Sehr gut gefallen auch Sarah Kuffner als Flora und Xiaoke Hu als Gastone, die ihren Rollen Profil verleihen. Ergänzt werden Sie von Karol Malinowksi als wenig charmanter Barone Douphol, Kai-Moritz von Blanckenburg als Marchese d’Obigny, Timo Hannig als Dottore Grenvil, sowie Rouben Sevostianov (Diener) und Dmitri Metkin (Commissario).

Marc Rohde, 16. Februar 2024

Besonderer Dank an unseren Kooperationspartner MERKER-online (Wien)


La Traviata
Giuseppe Verdi

Flensburg / Schleswig-Holsteinisches Landestheater

13. Februar 2024

Regie: Kornelia Repschläger
Dirigat: Martynas Stakionis
Schleswig-Holsteinisches Sinfonieorchester