Premiere am 29.2.2020
Sergej Sergejewitsch Prokofjew begann die Arbeit an seinem opus 87 im Sommer 1940, zusammen mit dem Librettisten Nikolai Wolkow, auf Basis der Pubertäts- und Emanzipationsgeschichte aus der Sammlung von Charles Perrault, im deutschen Sprachraum als „Aschenputtel“ von den Gebrüdern Grimm populär gemacht. Der russische Titel ist Золушка (Soluschka). Vorgesehen war eine Uraufführung am Leningrader Kirow-Theater, was aber durch den deutschen Überfall auf die Sowjetunion und die jahrelange Belagerung der Stadt an der Ostsee verhindert wurde. Schließlich ging das Ballett am 21. November 1945 am Moskauer Bolschoi-Theater erstmals über die Bühne; die Choreographie stammte von Rostislaw Sacharow, es dirigierte Juri Fajer. Im Gegensatz zu Prokofjews heute populäreren „Romeo und Julia“ gab es keine musikalisch-rhythmischen Differenzen mit der Ballettcompagnie und von Anfang an uneingeschränkten Erfolg. Zudem ließ sich die Cendrillon-Geschichte auch gut mit der Staatsideologie vereinbaren.
Kann modernes Tanztheater die Zielsetzung des Komponisten erfüllen? „Das, was ich vor allem in Musik setzen wollte, ist die romantische Liebe Aschenbrödels und des Prinzen in der Tradition des alten klassischen Balletts, mit Pas de deux, Gavotte, Walzern, Bourrée, Mazurka und Galopp.“ Nun, Mei Hong Lin hat mit ihrer Inszenierung und Choreografie zwar an der Geschichte einiges herumgeschraubt, aber nicht darauf vergessen, daß es sich auch um ein Märchen handelt (Dramaturgie: Thorsten Teubl). Nur ist dieses in die Welt des klassischen Balletts verlegt, Immerhin sehen wir so zum ersten Mal seit mindestens 20 Jahren Pause am Linzer Landestheater wieder Spitzentanz!!!
Aschenputtel ist hier die Tochter eines Tänzerehepaares, schon von klein auf vom Beruf ihrer Eltern fasziniert. Die Mutter stirbt plötzlich, eine Stiefmutter mit zwei fies-steampunkigen Töchtern tritt auf. Wobei diese weniger ihre neue Schwester piesacken als sich selbst, durch alle Jahreszeiten, in den Vordergrund spielen wollen (was freilich auch an Schuhen scheitert). Allerdings wird Aschenputtel auch von einer guten Fee, die ihrer verstorbenen Mutter ähnelt, und von zwei Schutzengeln geleitet und beschützt. Cinderellas Tanzbegeisterung wird überwältigend, als eine Ballettcompagnie in ihrer Heimatstadt zu Gast ist, die … Prokofjews „Soluschka“ aufführt! Nach der Vorstellung, als schon die Sterne funkeln, schleicht sich unsere Hauptfigur auf die Bühne und beginnt zu tanzen. Der „Startänzer“ der Compagnie kommt zurück auf die Bühne und wiederholt mit ihr – fast – genau den pas de deux, den er (vor der Pause) mit seiner Bühnenkollegin aufgeführt hat. Einige Jahre später kommt die Ballettruppe wieder in die Stadt, und Cinderella erneut auf die Bühne – jetzt aber, um zu bleiben, und den Tänzer zu heiraten. Zuletzt sehen wir beider Tochter, die, wie einst ihre Mutter, schon in der Jugend vom Tanz begeistert ist.
Dirk Hofacker hat dafür eine einfache schwarze Kastenbühne mit vielen – variablen – schlauen Details gebaut; z. B. gibt er der Stiefmutter einen großen Spiegel für einen pas de deux mit sich selbst, und Engel sowie die Fee tauchen aus dem Himmel auf. Zwischendurch ist auch ein Arkadengang auf der Straße zu sehen, markiert mit Bögen aus Licht; immer wieder vervollständigen auch sparsame, jedoch wirkungsvolle bunte LED-Akzente den Raumeindruck (Johann Hofbauer); aber es gibt auch einen prachtvollen Sternenhimmel! Natürlich nicht zu vergessen die Logentürme und der prächtige rote Vorhang, die das Theater im 2. Akt markieren.
Herr Hofacker hat auch eine Fülle von treffenden Kostümen entworfen, von einem grauen Kittel fürs Aschenputtel, aus dem eine Art Tütü-Bürzel ragt (die in keiner Lebenslage zu unterdrückenden Liebe zum Tanz), über die bunten Gestalten aus der Feenwelt bis zu fantastisch aufgedonnerten „Stiefdamen“, vielleicht an Cruella deVil in Disneys Dalmatinerfilm von 1961 orientiert.Als Cinderella (Kind und Teenager) berührt und begeistert Lara Bonnel Almonem mit wunderbar tanztheatralisch dargestellten Gefühlen.
Später, als junge Frau, kann Kayla May Corbin der Figur auch klassisches Ballettkönnen verleihen. Núria Giménez Villarroya wirbelt als Fee in verschiedenen Erscheinungsformen über die Bühne, immer auf ihr Kind bedacht, das sie als jung verstorbene Mutter alleine lassen mußte. Ihr Gatte ist Vincenzo Rosario Minervini in einer kleineren, nichtsdestotrotz engagiert getanzten Rolle.
Stiefmutter Mireia González Fernández ist eine köstlich schräge Schreckschraube mit Wudupüppchen im Haar, und ihre leiblichen Töchter (Rie Akiyama und Julie Endo) lassen keinen Zweifel daran, von wem sie abstammen.
(„Soluschka“-Prinz) Shang-Jen Yuan packt die klassische Ballettkunst aus, mit bezaubernden pas de deux, mit der klassischen Primaballerina Cristina Uta (die die Emotionalität des Spitzentanzes wunderbar demonstriert) wie mit Frau Corbin. Die beiden gelb-blau flatterhaften Schutzengel (Pavel Povrazník und Lorenzo Ruta) haben offensichtlich ebenso viel Spaß und Freude damit, Aschenputtel zu leiten wie das Publikum zu unterhalten.
Das weitere, präzise, akrobatische, expressive Ensemble: Melissa Panetta, Alessia Rizzi, Filip Löbl, Pedro Tayette, Safira Santana Sacramento, Evi van Wieren, Valerio Iurato, Nimrod Poles und Andrea Schuler; außerdem etliche der vorgenannten Solistinnen und Solisten in Zweitrollen.
Das Bruckner Orchester unter der souveränen Leitung von Marc Reibel erfüllt die bunte und fantasievolle Partitur Prokofjews mit blühendem Leben – von perkussiver Präzision bis zu schwelgerischer Pracht, von zarter Lyrik bis zu eleganten Walzern … und unter letzteren findet sich, als das „Theater im Theater“ aufgebaut wird, ein Stück Musik, das sehr an den weltberühmten Walzer Nr. 2 (Kubrick’s „Eyes Wide Shut“!) aus der „Suite für Varieté-Orchester“ von Dimitri Schostakowitsch erinnert – die wurde aber doch, wie neuerdings erhoben wurde, erst nach 1950 geschrieben?! Aufgrund der dramaturgischen Umgestaltung wurde auch einiges umgestellt bzw. gestrichen, etwa das Marsch-Zitat aus den „Drei Orangen“; das ändert aber nichts daran, daß der Abend auch musikalisch balanciert, aus einem Guß, gerät.
Schließlich: Uneingeschränkte Begeisterung für Bühnenpersonal, Musik und Produktionsteam. Ein Abend für alle, und nebenbei ein wunderbares Beispiel dafür, daß Musik des 20. Jahrhunderts überaus eingängig sein kann, ohne banal zu werden…
Foto (c) Sakher Almonem
Petra und Helmut Huber, 3.3.2020
Besonderer Dank an unseren Kooperationspartner MERKER-online (Wien)