Köln: „Miss Saigon“

UA 1989 am 20. September 1989 London / Broadway-Premiere im April 1991, DE am 2. Dezember 1994 in der Musical-Hall (Stage Apollo Theater) in Stuttgart, Premiere der neu überarbeiteten Fassung in Köln am 25. Januar 2019

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Gelungene Magical Mystery Tour der Zeitgeschichte Vietnams

Miss Saigon gehört zu den erfolgreichsten Musicals; es wurde in mehr als 369 Städten in 32 Ländern gezeigt, zog rund 36 Millionen Zuschauer in seinen Bann. Immerhin wurde es in 15 Sprachen aufgeführt und hat über 70 Auszeichnungen gewonnen, darunter auch so bedeutende wie zwei Oliviers und drei Tony Awards. Für das Stück griffen Komponist Schönberg und die Texter Richard Maltby und Alain Boublil den Stoff von Puccinis Oper Madama Butterfly auf. Die Geschichte transferieren sie nach Saigon, in die Schlussphase des Vietnamkrieges.

Das Stück von 1989 wurde 2014 überarbeitet neu inszeniert. Die Texte wurden aktualisiert und der Song Maybe für Ellen hinzugefügt. Gleichzeitig wurde auch an der Choreografie noch einmal gearbeitet. Im Mai desselben Jahres – zum 25. Geburtstag des Stückes – gab es eine Revival-Produktion im Prinz Edward Theatre in London; diese ist auch auf BluRay erhältlich. Für alle Fans, die sich die nicht gerade billigen Eintrittspreise in Köln nicht leisten können, unser absoluter Geheimtipp, denn die Inszenierung ist zentimetergenau dieselbe – nur die Protagonisten sind andere.

Zur Produktion

Immer wieder rufen Traditionalisten auf dem klassischen Opernsektor bei modernen, oft auch politischen Inszenierungen hinterher dem Regieteam zu: Sauerei! Schreibt doch Eure eigenen modernen Opern! Und schreibt dazu eigene neue Musik. Heute würde ich entgegnen: Freunde, solche gibt es doch längst. Eine der grandiosesten heißt MISS SAIGON und wird eigentlich, fälschlicher Weise, unter Wert verkauft nur Musical genannt.

Schon allein, weil sie immer noch hochpolitisch ist – das waren übrigens viele klassische Opern früher auch! – stelle ich sie, alle Genres und Grenzen überschreitend, auf dasselbe Niveau. Der Opernkritiker war überrascht und begeistert. Eine so vielfältig ausziselierte und perfekt choreographierte Inszenierung aus dem Zauberkasten der Theaterbühne – eine Art Magical Mystery Tour der Zeitgeschichte Vietnams – wünschte sich der Opernkritiker alle Tage auch im Bereich des klassischen Musiktheaters. Und als großer Puccini-Träumer fand ich mich bei MISS SAIGON blendend unterhalten; hat doch die hochspannende Geschichte nicht nur die Dramaturgie, sondern auch den Handlungsstrang von Madama Butterfly.

Als Filmkritiker wäre sie in meiner persönlichen Empfehlungsliste der vierte Teil einer kritischen Vietnam-Quadrilogie – Apokalypse Now, Deer Hunter, Killing Fields. Zumindest letzteren Film würde ich jüngeren Musikfreunden als perfekte Vorbereitung und zum Eintauchen in diese historische Materie anraten.

Politisch ist MISS SAIGON sicherlich das Beste an Musical was je geschrieben wurde, auch wenn es etwas textlastig und mit zweieinhalb Stunden mir auch etwas zu lang ist. Kein Vergleich zu der üblichen Seichtware mit der ansonsten weltweit unsere Ohren malträtiert werden. Reingehen, rausgehen und vergessen geht bei diesem tollen Werk nicht, denn es bleiben Bilder hängen. Viele Szenen sind der kruden Wirklichkeit entnommen oder angelehnt. Das berührt den geschichtsbewussten, politisch noch denkenden Menschen.

Spannende Handlung über zweieinhalb Stunden in szenischer Brillanz; man denkt öfter an Orwells 1984 oder, Stichwort Kampf-Hubschrauber, an Apokalypse Now. Die Musik fasziniert, wobei das Genre des großen Hits ebenso stattfindet, wie fast ariose Texte, die durchaus einem Opernlibretto entnommen sein könnten. Es gibt Tanz- und Marschszenen, die schon fast erschreckend, sowohl an reale Vorbilder wie Russland, China oder Nordkorea, als auch an irreale Phantasien wie Pink Floyds The Wall erinnern.

American Dream

Alle wollen nur raus aus diesem Elend in ihr Traumland USA. Nur wenige wissen heute, daß der immer noch aktuelle Begriff Boat People eben genau aus diesen Zeiten – dem Ende des Vietnam Krieges – stammt. Leonard Bernsteins America aus seiner West Side Story würde nahtlos in das Werk reinpassen. Die Millionen tragischen Opfer dieses so sinnlosen Krieges wollen nur noch raus aus diesem Wahnsinn – hier entspricht MISS SAIGON schon fast erschreckend hautnah den historischen Bildern.

Daß so ein mutiges Stück natürlich in Amerika nicht ansatzweise so erfolgreich war wie im alten Europa, ist klar. Vietnam ist immer noch immer eine Wunde bei unseren Amerikanischen Freunden und hinzu kommt, daß eine Geschichte, die nicht chronologisch erzählt wird, ohnehin Kassengift in der Neuen Welt ist.

Fazit

Die Überarbeitung dieses tollen Stücks hat sich gelohnt. Schon der gigantische technische Aufwand ist furios und die Künstler sind bestechend. Ob Bar oder Bordell, ob Botschafts-Terrasse oder Hubschrauberpodest, Arbeitslager oder New York Szenen – alles funktioniert bestens und wirkt durchaus realistisch. Die Szenenwechsel realisieren sich blitzschnell und wie von Zauberhand. Die Dramaturgie ist so bestechend wie die überzeugende Lichtregie. Und der volle Einsatz aller Künstler ist überwältigend, gelegentlich sogar tränenrührig. Vieles bleibt nachhaltig in Erinnerung. Was für ein überzeugender Musiktheaterabend! Ganz ehrlich: dafür lasse ich jede aktuelle Oper momentan links liegen ;-).

Herzlich grüßt der Opernkritiker

Peter Bilsing 28.Januar.2019