Wer sich auf ein beschauliches, muggeliges Sonntagmorgen-Konzert in der Lübecker Musik- und Kongreßhalle eingestellt hatte, wurde gleich mit den ersten Takten eines Besseren belehrt. Die „Symphonischen Tänze“ sind gleichsam die musikalische Quintessenz aus Leonard Bernsteins Musical „West Side Story“ und wenn diese charakteristische Mixtur aus verschiedenen Jazz-Genres, lateinamerikanischen Rhythmen und der europäischen Opernmusik so pfeffrig dargeboten wird wie vom Philharmonischen Orchester der Hansestadt Lübeck unter der Leitung von GMD Stefan Vladar, dann möchte man am liebsten aus den Sitzreihen springen.
Viele Mitwirkende im Orchester empfinden das ebenso, wippen im mitreißenden Rhythmus mit und strahlen um die Wette. Die reizvollen Wechsel in Rhythmik, Dynamik und Tempi sind eingefügt in die großen Umschwünge von spätromantisch beeinflußter Symphonik zu jazziger Clubmusik und kubanischen wie puertoricanischen Tänzen, allen voran dem Mambo. Die Lübecker schaffen es mühelos, ihre eigene Spielfreude auf das Publikum zu übertragen und vor allem vermitteln sie den Geruch der Straße und die Atmosphäre der Hinterhöfe mit dem abblätternden Putz und den typischen Feuertreppen.
Diese Musik ist nicht nett, sondern authentisch und Vladar, der mit großem Einsatz dirigiert, biegt sich wie eine junge Birke, tänzelt und kitzelt die Töne aus dem komplex instrumentierten Klangkörper heraus.
Dann wieder gibt es Momente inniger Zartheit und den Äußerungen großer, verletzlicher Liebe. Schließlich ist das zugrundeliegende Musical ja eine Romeo und Julia-Adaption und es prallen hier nicht nur unterschiedliche Ethnien aufeinander, sondern die rivalisierenden Jugendgruppen müssen auch ständig auf der Hut vor der Polizei sein, deren Trillerpfeife ein markantes Signal setzt.
Die Soloinstrumente sind so stark und sicher wie das ganze Orchester, vor allem das Schlagwerk stützt das spannungs- und abwechslungsreiche Tempo.
Schön, daß die örtliche Baseballmannschaft auch im Publikum vertreten ist und für Lokalkolorit sorgt, zumindest lassen die auch im Innenraum aufbehaltenen Kappen darauf schließen. Na, da sind die „Harlem Globetrotters“ aber ganz weit weg…
Einige Leute kommen auch viel zu spät und klappen kurz vor dem Finale laut mit den Türen. Man muß es ja nicht so streng wie in Bayreuth handhaben, aber bis zum Verklingen der letzten Takte hätte man gerne noch warten können.
Erste Bravo-Rufe vermitteln, daß der Funke übergesprungen ist und leiten über zum Begrüßungsapplaus für Tzimon Barto. Die überstrapazierten Beinamen für diesen Ausnahmepianisten werden in dieser Kritik ausgespart, der Mann hat genug mitgemacht.
Heute zeigt er in Gershwins „Concerto in F“ sein ganzes Talent in Geschwindigkeit, Exaktheit und leidenschaftlicher Hingabe, gepaart mit souveräner Lässigkeit. Er und Vladar treten immer wieder in direkten Kontakt; da stimmt die Chemie und das klappt sowieso in selbstverständlicher Übereinstimmung, vor allem mit dem umfangreichen Orchester in seiner reichen Instrumentierung.
Auch bei diesem dreisätzigen Stück gelingen die Sprünge bzw. das Gleiten vom Big-Band-Sound zur großen Symphonik und dann wieder zur Bar-Atmosphäre spielend. Dieses Konzert macht einfach Spaß und hat doch auch seine elegischen, melancholischen Stellen. Bartos pedalfreudiges Spiel schafft einen deutlichen aber niemals verschliffenen Hall, der zum großen Gestus der entsprechenden Sequenzen paßt. Seine Triller sind ebenso beherrscht wie leicht perlend und im Solopart minimiert er die aufschäumende Dynamik zu feinster Intimität.
Mit einem Verweis auf den Kopfsatz wird das Finale des Konzerts eingeleitet – auch in der Wiedergabe ist dieses Stück eine absolut runde Sache und Barto kommt nach begeistertem und verdientem Applaus nicht ohne Zugabe von der Bühne. Dafür wählt er Gershwins berühmtes Prelude Nr. 2 und obwohl dem ein klassischer Blues zugrunde liegt, kommt in der „MuK“ keine trübe Stimmung auf. Mit herzlichem Beifall verabschiedet das Publikum den Solisten.
Nach der Pause erklingen Rachmaninows „Symphonische Tänze“ und obwohl der Titel mit dem des ersten Stückes des Vormittags übereinstimmt, könnten die Werke kaum unterschiedlicher sein. Wenngleich der Komponist sein Opus 45 in der Nähe des „Big Apple“ komponiert hat, ist diese Musik so gar nicht amerikanisch, sondern das schwermütige Zeugnis seines Heimwehs nach der russischen Heimat, aus der er fliehen mußte.
Eigentlich sollte das dreisätzige Werk „Phantastische Tänze“ heißen, was den wechselhaften, oft dramatischen, dann wieder traumartig grotesken und im Genre schwer greifbaren Charakter dieser Musik besser trifft, weil eben gerade nicht fassen will. Vielleicht ist das auch ein Grund dafür, daß Rachmaninow diese Tänze, die bis auf den Walzer im zweiten Satz eben nicht wirklich tanzbar sind, als seine beste Komposition empfunden hat. Deren Stärke liegt in der kaum überbietbaren Heterogenität, Farbenvielfalt und Eigenwilligkeit in den Brüchen und überraschenden Wendungen. Vladar scheint manchmal in das Orchester hineingreifen zu wollen, wenn er mit entschiedenem Körpereinsatz einzelne Instrumentengruppen zu höchster Intensität anspornt.
Das „Dies Irae“-Motiv, das in fünf der wichtigsten Kompositionen Rachmaninows drohend auf den Jüngsten Tag verweist, beschließt den dritten Satz und beschwört damit ebenso das Bewußtsein der eigenen Endlichkeit wie die Hoffnung auf Erlösung. In diesen Tänzen geht es nicht ums Vergnügen, sondern um existentielle Fragen.
Langanhaltender Applaus mit zahlreichen „Bravo!“-Rufen belohnt eine wunderbare Gesamtleistung des Orchesters mit all seinen Solistinnen und Solisten, dem Dirigenten und einem ganz besonderen Pianisten.
Andreas Ströbl, 21. Mai 2023
Lübeck
8. Symphoniekonzert in der Musik- und Kongreßhal
21. Mai 2023
Musikalische Leitung: Stefan Vladar
Klavier: Tzimon Barto
Philharmonisches Orchester der Hansestadt Lübeck
Leonard Bernstein, Symphonische Tänze aus „West Side Story“
George Gershwin, Concerto in F
Sergei Rachmaninow, Symphonische Tänze op. 45