Königsfelden, Ballett: „Carmen“, George Bizet / Jonathan Keren

Von 23. Mai bis 21. Juni 2025 verwandelt sich die historische Klosterkirche Königsfelden in einen Ort für Tanz, Musik und künstlerische Entfaltung. Die zeitgenössische Neuinszenierung von Carmen bildet den choreografischen Höhepunkt des Festivals Tanz und Kunst Königsfelden 2025 – eine fesselnde Ballettinszenierung zwischen Leidenschaft, Freiheit und Tragik.

© Carlos Quezada

Was ist die Liebe, was macht Liebe aus? Ganz sicher nicht Besitzergreifung, denn diese engt ein, zerstört die Freiheit und die Freude am Entdecken und Ausprobieren neuer Möglichkeiten. Eine auf Eifersucht und Besitzansprüchen basierte Freiheitsberaubung des individuellen Strebens nach Glück hat der Schöpfer des Carmen-Stoffes, Prosper Mérimée, in seiner Novelle 1845 thematisiert (wenn auch recht moralisierend). Diese Novelle bildete auch die literarische Vorlage zu Bizets Erfolgsoper– und der Leiter von Tanz und Kunst Königsfelden und einstige Erste Solist des Balletts Zürich, Filipe Portugal, nimmt sich nun in seiner ersten abendfüllenden Choreografie des Stoffes an – und um es gleich vorweg zu nehmen: Diese Produktion ist eine Wucht! Gut 70 Minuten pausenloser Spannung lassen einen gebannt die tragische Geschichte um Carmen und Don José verfolgen, eine Geschichte, die in den letzten 170 Jahren nichts an Aktualität eingebüßt hat. Im Gegenteil! Gerade in einer Zeit, in welcher in gewissen Kreisen eine neue Biederkeit Einzug hält, ist es wichtig, die moralisierende Unterdrückung der Triebe zu hinterfragen und mit den Mitteln der Kunst zur Diskussion anzuregen. Filipe Portugal und sein Dramaturg Gregor Acuña-Pohl fokussieren sich in ihrer stringenten Erzählweise ganz auf sinnliche Körperlichkeit und Ausdruck mit tänzerischen Mitteln.

Auf jegliches folkloristische Brimborium wird verzichtet, die Geschichte wird ganz in die Gegenwart katapultiert; sie passiert im Hier und Jetzt. Die Arbeiterinnen in der streng bewachten Hochsicherheits-Fabrik sind keine Sinti oder Roma, sondern junge Frauen. Ihre metallisch glänzenden Röcke deuten auf irgendeine Computerchips-Fabrik hin. Die Wächter, darunter Don José, Morales und ein namenloser Junge, sind in streng geschnittene, schwarze Outfits gesteckt. Vor den Fabriktoren (drei riesige Quader, die sich öffnen und verschieben lassen, um Schauplätze zu markieren) warten Männer auf die Arbeiterinnen, vertreiben sich die Zeit mit überaus originell choreografierten Tänzen. Don José wird von Anfang an als Außenseiter dargestellt – auch vom Tanz her. Besetzt ist er mit David Corìa, dem mit dem Premio Talía ausgezeichneten Flamenco-Tänzer und Choreografen. Sein von starker Ausdruckskraft geprägter Tanzstil ist ganz nah am Flamenco angesiedelt und passt fantastisch zum konservativen, der Macho-Tradition verhafteten, eifersüchtigen und seine Emotionen nicht kontrollieren könnenden José.

Ganz anders die Carmen von Giulia Tonelli (bis 2024 gefeierte Erste Solistin des Balletts Zürich): Leicht wie ein Schmetterling schwebt sie über die Bühne der Klosterkirche, weiß um ihre Verführungskraft und setzt diese gezielt ein. Das ist voller elektrisierender Erotik getanzt, von ätherischer Schwerelosigkeit geprägt. Sie lässt das Knie frech unter dem roten Kleid hervor knicken, spielt kokett mit den Fußgelenken, zeigt ihre hervorragende Technik auf der Spitze, ihre stupende, kontrollierte Gespanntheit in jeder Faser ihrer Muskeln, bis zu perfektionierter Armhaltung und virtuoser Beinarbeit. Dabei wirkt all das Schwere bei ihr ganz leicht, und die Bewegungen fließen mit bezwingender, raumgreifender Selbstverständlichkeit aus dem zierlichen Körper. In ihren Pas de Deux verschmelzen Carmen und José voller Sinnlichkeit ineinander (wo sie noch eine gegenseitige Anziehungskraft spüren), oder prallen voller Eifersucht (er) und Wut (sie) aufeinander. Einen ganz besonderen dramaturgischen Kniff verwenden Portugal und Acuña-Pohl für die Figur des Escamillo, der hier eine Escamilla wird, ein Superstar in Stil von Taylor Swift, mit Pailletten besetztem Jäckchen, Leggins, bauchfreiem Top und Slingpumps. Carmen fühlt sich sofort von dieser Frau angezogen, José rast vor Eifersucht; als konservatives Landei kann er das alles nicht verstehen, geschweige denn akzeptieren. Großartig dargestellt wird diese Superstar-Figur von mit differenziert ausgestalteter Eleganz von Clara Thierry. Verzichtet haben Filipe Portugal und Gregor Acuña-Pohl auf die Figur der Micaëla aus Bizets Oper. Gut so, denn die Motivation Josés zum Femizid, zur Unterdrückung von Carmens Freiheitsdrang kann nicht mit dem simplen Mädchen aus dem Dorf und der Beziehung zu seiner Mutter entschuldigt werden. Dafür räumen Choreograf und Dramaturg den Figuren von Manuela (mit der Carmen die Auseinandersetzung in der Fabrik hat) und Morales (dem sich unwiderstehlich selbstgefällig gebenden Wächter, der in Pastias Kneipe von José aus Eifersucht erwürgt wird) mehr Raum ein. Valentina Pedica tanzt diese wilde, ungezähmte Manuela mit starker, raumgreifender Bühnenpräsenz und Dominic Harrison interpretiert den attraktiven Womanizer Morales mit starker Ausdruckskraft und potentem Bewegungsvokabular. Michele Pastorini ist ein erfrischender, agiler Lilas Pastia und bereichert mit seiner Körperlichkeit auch die originell choreografierten Gruppentänze. Die sind dank der bereits erwähnten Tänzer Valentina Pedica, Dominic Harrison und Michele Pastorini auch von María Matarranz, Valentin Chou, Carmelia Steiner, Roman Pascoli, Ashley Tsuyu Burks, João Reis, Catarina Gonçalves und Damian Huiduc-Manolescu (er gehört auch zu den Wächtern) von herausragender Intensität und sprühender, mitreißender tänzerischer Einfallskraft geprägt.

© Carlos Quezada

Die wunderbar gestalteten, sehr körperbetonten Kostüme hat Claudia Binder entworfen, das unaufdringlich und passend die Spielorte charakterisierende Bühnenbild und die Kunstinstallationen von Antonina Businger fügen sich hervorragend in das gotische Kirchenschiff der 700jährigen, frisch renovierten Klosterkirche Königsfelden ein, unterstützt vom klug disponierten Licht (Karl Egli, Micha Bietenhader). Und last but not least ist die genial komponierte Musik von Jonathan Keren zu erwähnen, welcher aus Fragmenten von Bizets unsterblichen Melodien und eigenen Kompositionen eine ungemein stimmungsintensive Musik erschaffen hat. Ausgeführt wird sie vom genial spielenden Musikensemble CHAARTS CHAMBER ARTISTS, bestehend aus dem Cello-Sextett Andreas Fleck (Leitung), Guillermo Pastrana, Isabel Gehweiler, Milena Umiglia, Li La und Simon Mutanu und der Perkussionistin Eleonora Costina und dem Perkussionisten Luca Staffelbach, die an ihren diversen Schlaginstrumenten sehr viel zu tun haben, ungeahnte Stimmungen hervorzuzaubern verstehen und zusammen mit den mal gesanglichen, mal bedrohlichen Celli einen bezwingenden und bestechend stimmigen Sound für die Gänsehaut erregende Story evozieren.

Fazit: Hingehen und sich vom hervorragend aktualisierten Sog der fatalen Liebe um Carmen und Don José mitreißen und begeistern lassen!

Kaspar Sannemann 25. Mai 2025


Carmen
Musik: Jonathan Keren, basierend auf Georges Bizet
Klosterkirche Königsfelden

23. Mai 2025

Choreografie: Filipe Portugal

Weitere Aufführungsdaten: 25.5. | 29.5. | 30.5. | 31.5. | 1.6.| 5.6. | 6.6. | 7.6. | 8.6. | 12.6. | 13.6. | 14.6. | 15.6.2025