Krefeld: „Die Passagierin“, Mieczysław Weinberg (vierte Besprechung)

© Matthias Stutte

Was war das doch für ein gelungener Opernabend! Bereits im Jahre 1968 entstanden, aber erst 2010 bei den Bregenzer Festspielen erfolgreich aus der Taufe gehoben, hat Mieczysław Weinbergs auf einem Libretto von Alexander Medwedjew beruhende grandiose Oper Die Passagierin inzwischen ihren unaufhaltsamen Siegeszug über die deutschsprachigen Bühnen angetreten. Immer mehr Opernhäuser – inzwischen sind es elf deutsche Theater – führen sie auf, und durchweg mit enormem Erfolg. Auch das Gemeinschaftstheater Krefeld/Mönchengladbach hat sich jetzt dieses phänomenalen Werkes angenommen und damit einen regelrechten Volltreffer gelandet. Was an diesem Abend des 1. Mai 2025 über die Bühne des Theaters Krefeld ging, war ungemein spannungsgeladenes, packendes Musiktheater vom Feinsten, das beim Schlussapplaus Teile des Publikums zu Standing Ovations hinriss. Das Werk wurde seitens des begeisterten Auditoriums voll angenommen. Wieder einmal erwies es sich, dass wir es hier mit der wohl bedeutendsten Oper der Jetztzeit zu tun haben. Es ist unmöglich, von der Passagierin nicht in hohem Maße, extrem und zutiefst ergriffen zu werden und dieses absolute Juwel ihrer Gattung nicht mit totaler Begeisterung in sich aufzusaugen. Das war auch bei der hier zu besprechenden Aufführung deutlich zu konstatieren. Es erscheint nicht weiter verwunderlich, das sich Weinbergs absolut geniale Oper in den vergangenen Jahren immer mehr auf den deutschsprachigen Bühnen durchgesetzt hat. Und dass sogar eine kleinere Theatergemeinschaft wie Krefeld/Mönchengladbach, dessen Bestehen sich dieses Jahr zum 75. Mal jährt, es auf derart hohem Niveau auf die Bühne bringen kann, ist schlicht und ergreifend  sensationell. Zwar wurde innerhalb der Partitur etwas zu oft der Rotstift angesetzt, was schon sehr schmerzlich war. Als Grund dafür wurde seitens der Opernleitung angegeben, dass man mit diesen Kürzungen eine stärkere Konzentration auf die beiden Paare Lisa und Walter, Marta und Tadeusz erreichen wollte. An der Brillanz der Aufführung vermochten diese Striche aber nichts zu ändern. Der Eindruck, den diese herausragende Oper hinterließ, war wieder einmal ganz gewaltig. Zur Aufführung kam in Krefeld die sprachliche Mischfassung, die auch der deutschen Erstaufführung des Werkes in Karlsruhe zugrunde lag. Lisa, Walter und die drei SS-Männer sangen deutsch, Marta und Tadeusz polnisch sowie die weiblichen Häftlinge in ihrer jeweiligen Landessprache. Der Steward bediente sich des Englischen.

© Matthias Stutte

Der jüdisch-polnische Komponist Weinberg, der bereits als junger  Mann vor der in sein Heimatland Polen vorrückenden Armee der Nazis in die UdSSR fliehen musste und die restliche Zeit seines Lebens dort im Exil verbrachte, greift in seiner Passagierin, die in der UdSSR aus ideologischen Gründen lange Zeit nicht zur Aufführung gebracht werden durfte – das hat sich erst in letzter Zeit geändert -, das dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte auf: den Holocaust und die Gräuel in den Konzentrationslagern. Weinbergs Oper liegt der gleichnamige Roman – im Original: Pasazerka – der polnischen Auschwitzüberlebenden Zofia Posmysz (1923 – 2022) zugrunde, in dem diese ihre Erlebnisse in der Hölle von Auschwitz mit ungeheurer Radikalität schildert und dabei neben der Hauptproblematik von Schuld und Sühne auch die Verdrängungsmentalität der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg äußerst kritisch beleuchtet. Weinberg, der seine ganze Familie in der Shoah verlor, und Medwedjew haben die Grundstruktur des Buches in ihrem Werk beibehalten und nur wenige Änderungen vorgenommen, um einzelne Handlungsstränge dem Opernsujet anzupassen.

Geschildert wird die Geschichte der ehemaligen KZ-Aufseherin Lisa, die Ende der 1950er Jahre auf einer Schiffsreise nach Brasilien, wo ihr Ehemann Walter seinen neuen Posten als Botschafter der Bundesrepublik Deutschland antreten soll, in einer mitreisenden Passagierin einen einstigen Auschwitz-Häftling, Marta, zu erkennen glaubt, die sie längst für tot hält. Diese Begegnung ruft in ihr Erinnerungen an die Zeit im Konzentrationslager wach. Ihre verdrängte Vergangenheit steigt zunehmend wieder an die Oberfläche. Sie sieht sich in Auschwitz in ihrer alten Rolle als junge KZ-Wärterin. Ihr gegenüber steht Marta, zu der sie eine ganz persönliche Beziehung aufbaut und der sie sogar ein Treffen mit ihrem ebenfalls gefangenen Verlobten Tadeusz – er ist in Weinbergs Oper im Gegensatz zu Zofia Posmysz‘ Roman nicht bildender Künstler, sondern Geiger – ermöglicht, die sie am Ende aber doch in den Todesblock schickt. Wie Marta dem Tod an der schwarzen Wand letztlich entrinnen konnte, ist ein großes Geheimnis, das nicht gelüftet wird. Unter der übermächtigen Last ihres schlechten Gewissens gesteht Lisa ihrem darob sehr entsetzten und stark um seine diplomatische Karriere fürchtenden Mann schließlich alles, wobei auch die Stimmen der Vergangenheit eine ausführliche Rückschau einfordern: Jetzt mögen andere sprechen! Die Hölle von Auschwitz wird für Lisa zum Inferno ihrer Erinnerungen. Im Folgenden spielen sich die einzelnen Szenen abwechselnd auf dem Ozeandampfer und in Auschwitz ab.

© Matthias Stutte

Es ist eine in hohem Maße erschütternde Geschichte, zu deren Zeuge das Publikum  hier wird. Weinbergs Passagierin stellt einen stark unter die Haut gehenden, beklemmenden Kontrapunkt gegen das Vergessen dar, ein flammendes Plädoyer gegen jede Art des Verdrängens mit den Mitteln des Musiktheaters. Von diesem Stück kann man einfach nur ungemein begeistert sein. Darüber war sich bereits Dmitry Schostakowitsch im Klaren. Seinem Postulat Ich werde nicht müde, mich für die Oper Die Passagierin von Mieczysław Weinberg zu begeistern. Dreimal habe ich sie schon gehört, die Partitur studiert, und jedes Mal verstand ich die Schönheit und Größe dieser Musik besser. Ein in Form und Stil meisterhaft vollendetes Werk und dazu vom Thema her ein höchst aktuelles…Die Musik der Oper erschüttert in ihrer Dramatik. Sie ist prägnant und bildhaft, in ihr gibt es keine einzige ‚leere‘, gleichgültige Note. Alles ist vom Komponisten durchlebt und durchdacht, alles ist wahrheitsgetreu und mit Leidenschaft ausgedrückt. kann man sich nur von ganzem Herzen anschließen. Diese begeisterten Worte des Freundes und großen Mentors Weinbergs findet man im Vorwort des bei Peermusic erschienenen Klavierauszuges der Passagierin. Bei dieser Oper handelt es sich um etwas ganz und gar Einzigartiges, um ein Werk von erlesenster Güte, ungemein hoher Kraft und Intensität sowie immenser Eindringlichkeit. Gleichermaßen extrem außergewöhnlich ist die Wirkung, die die Passagierin auf die Zuschauer hat. Aus dieser Oper geht man ganz anders heraus als aus sonstigen Stücken des Musiktheaters. Man fühlt sich in höchstem Maße ergriffen, berührt und sogar beklommen. Die Passagierin erschließt sich dem Auditorium auf einer unterschwelligen, gefühlsmäßigen Basis, die es zunächst kaum spürt, die es dann aber umso stärker packt und nachhaltig in ihren Bann zieht.

Von geradezu atemberaubender Spannung präsentiert sich Weinbergs Musik. Die Klangsprache des genialen Komponisten erinnert stark an diejenige von Schostakowitsch. Als Beispiel hierfür sei nur der Walzer des Kommandanten genannt. Anklänge an Prokoviev und Britten sind ebenfalls zu vernehmen. Die Partitur der Passagierin beruht auf einer erweiterten Tonalität und zeichnet sich obendrein durch Elemente der Zwölftontechnik aus. Gleichzeitig ist der Klangteppich aber ausgesprochen schön und oft auch sehr melodiös. In diesem Zusammenhang seien nur die oft sehnsuchtsvollen Lieder der weiblichen Häftlinge, der Choral sowie das herrliche Liebesduett zwischen Marta und Tadeusz im zweiten Akt erwähnt. Und für die von Weinberg ins Feld geführte Leitmotivtechnik hat augenscheinlich Richard Wagner Pate gestanden. Die Leitmotive wirken bei der Passagierin im Gegensatz zu Wagner indes nicht direkt, sondern mehr unterschwellig auf den Zuhörer ein. Nichtsdestotrotz bleiben viele Themen in guter Erinnerung. Zu nennen sind hier insbesondere die musikalischen Zitate aus der Musikgeschichte. Als Beispiele dafür können Bachs Chaconne aus der Partita Nr. 2 d-Moll für Solo-Violine, das Schicksals-Motiv aus Beethovens 5. Symphony in c-Moll, Schuberts Militärmarsch in D-Dur sowie das Prügel-Motiv aus Wagners Meistersingern dienen. Diese phantastische Musik geht tüchtig unter die Haut, besonders wenn sie so hochkarätig und brillant vor den Ohren des Auditoriums ausgebreitet wird wie von GMD Mihkel Kütson und den prachtvoll aufspielenden Rheinischen Sinfonikern. Der Dirigent weist dem Orchester mit sicherer Hand den Weg durch Weinbergs anspruchsvolle Partitur. Der von ihnen erzeugte Klangteppich zeichnete sich durch gemäßigte Tempi, große Intensität sowie einen gehörigen Schuss an Emotionalität aus.

Vollauf gelungen war die Inszenierung der israelischen Regisseurin Dedi Baron in dem Bühnenbild und den Kostümen von Kirsten Dephoff. Gleich Zofia Posmysz in ihrem Buch erzählt auch Frau Baron die dramatische Handlung aus der Perspektive der Täterin Lisa. Die in Auschwitz spielenden Szenen werden seitens der Regie als innere Bilder der unter einem starken Trauma leidenden Lisa gedeutet. Im Verlauf des Geschehens läuft immer wieder eine junge Israelin über die Bühne und konfrontiert das Publikum mit einer Reihe auf die Hinterwand projizierten Fragen. Diese sind essentiell und gehen uns alle an. Bei dieser jungen Israelin handelt es sich nach Operndirektor Andreas Wendholz um eine Referenzfigur für die Gegenwart. Welche Bedeutung haben die aufgeworfenen Fragen heute? Sehen die Menschen die Gefahr für die Zukunft? Das muss jeder für sich allein beantworten. Laut schreit die Regisseurin ihre Warnung in die Welt, dieselben schlimmen Fehler nicht noch einmal zu begehen. Staatsformen wie der Nationalsozialismus dürfen sich niemals wieder etablieren.

© Matthias Stutte

Dabei vermeidet Dedi Baron jede Art von KZ-Realismus. Die ganze Passagierin spielt bei ihr auf dem Schiff. Dabei lässt sie die verschiedenen Zeitebenen von Auschwitz und dem Ozeandampfer gekonnt miteinander verschmelzen. Wenn sich der Vorhang öffnet, erblickt man das marode wirkende, von rostigen Wänden und KZ-Duschen eingenommene Sonnendeck des Ozeanriesen. Die Passagiere lassen es sich auf einer Anzahl von Liegen gut gehen. Die gestreiften Handtücher, die sie sich wie Schals um den Hals legen, gemahnen an Häftlingskleider. Die Reisenden auf dem Schiff sind modern gekleidet, während die Häftlingsfrauen baige Kleider samt grauem Kittel tragen. Bereits im ersten Bild nehmen Marta und ihre mitgefangenen Freundinnen auf der Liege von Lisa und Walter Platz. Dergestalt mutieren die Sonnenliegen des Dampfers zu KZ-Pritschen. Wenn sich die in Auschwitz inhaftierten Frauen später zu einem Pulk sammeln und sich sanft aneinanderschmiegen, atmet das hohe Emotionalität. Zunehmend wird das männliche und weibliche Schiffspersonal zu SS-Männern und KZ-Aufseherinnen. Das erweist sich bereits in dem Augenblick mit aller Deutlichkeit, in dem die Stewards, nun als SS-Leute zu erkennen, durch die Reihen der Schiffspassagiere gehen und ihnen ihren Schmuck abnehmen. Die Reisenden nehmen jetzt die Funktion der Häftlinge ein, die sich Schilder mit ihren von einer unsichtbaren Stimme aus dem Off aufgerufenen Nummern vor die Brust halten. Im weiteren Verlauf der Handlung kommt diesem Kollektiv eine zentrale Relevanz zu. Zu Beginn des zweiten Aktes ergehen sich die Männer und Frauen zum Walzer des Kommandanten in gemächlichen Tanzschritten. Anschließend werden sie, still dasitzend und mit Puppenmasken versehen, zu stummen Zeugen des Wiedersehens von Marta und Tadeusz. Lisa, für die Weinberg und Medwedjew an dieser Stelle überhaupt keinen Auftritt vorgesehen haben, beobachtet das Paar aus der Ferne. Mit die Spannung steigernden Tschechow‘ schen Elementen kann die Regisseurin umgehen, das muss man sagen!

Trotz des bereits erwähnten weitestgehenden Verzichts auf die grausame KZ-Realität spart Frau Baron Misshandlungen nicht ganz aus. So werden einige Häftlingsfrauen von den Steward-SS-Männern einmal in einer Zinkwanne untergetaucht. Aus einer Reihe über die Bühne verteilter herrenloser Schuhe kann man auf die Ermordung ihrer jüdischen Eigentümer schließen. Ein Höchstmaß an Demütigung erreicht die Regisseurin im Konzert-Bild, als sie Tadeusz die Chaconne von Bach gänzlich nackt spielen lässt. Dieser Regieeinfall machte hier durchaus Sinn.

Insgesamt intendierte Dedi Baron mit ihrer Inszenierung eine Warnung vor dem Vergessen. Die Sehnsucht der Täter nach Vergebung sowie ihr Begehren, von den Traumen der Vergangenheit befreit zu werden, drängten radikal an die Oberfläche. In diesem Zusammenhang spielte Vergebung eine essentielle  Rolle. Vergebung ist nach Ansicht der Regisseurin der einzige Weg, der Schuld zu entkommen. Als sich Lisa und Marta am Ende ein letztes Mal begegneten und sich aus der Ferne anblickten, schimmerte in der Tat der Ansatz einer Versöhnung zwischen den beiden Frauen auf. Ob diese dem ihnen hier aufgezeigten Weg gefolgt sind, blieb offen.

Auf insgesamt hohem Niveau bewegten sich die gesanglichen Leistungen. Eva Maria Günschmann war eine mit trefflich fokussiertem und markantem Mezzosopran perfekt singende Lisa, der sie auch darstellerisch voll und ganz entsprach. Prachtvoll hörte sich Sofia Poulopoulou an, die einen in jeder Lage gleichermaßen gut ansprechenden, ebenfalls trefflich fundierten Sopran für die Marta mitbrachte. Mit enormer lyrischer Eleganz und immenser Intensität stützte sie sich in ihre dankbare Rolle, die sie sowohl gesanglich als auch schauspielerisch mit Bravour auszufüllen verstand. Ein wunderbarer, sonorer und bestens italienisch geschulter Bariton ist dem Tadeusz von Rafael Bruck zu bescheinigen. Seine vokale Leistung war Wohlklang pur und auch darstellerisch erwies er sich als sehr mutig. Für seine Bereitschaft, sich auf der Bühne nackt zu zeigen, ist ihm große Anerkennung auszusprechen. Von Jan Kristof Schliep als Walter hätte man sich etwas mehr an solider Körperstütze seines recht dünnen Tenors gewünscht. Hervorragend präsentierte sich das Ensemble der aus Susanne Seefing (Krystina), Sophie Witte (Yvette), Antonia Busse (Katja), Gabriela Kuhn (Vlasta), Bettina Schaeffer (Hannah) und Kejti Karaj (Bronka) bestehenden Häftlingsfrauen. Sie alle sangen voll, rund und tiefgründig. Von den drei SS-Männern gefielen die profund intonierenden Bassisten Jeconiah Retulla und Matthias Wippich besser als der maskig klingende Tenor Arthur Meunier. Solide mutete Hayk Deinyans Älterer Passagier an. Die Sprechrollen waren bei Markus Heinrich (Steward) und Birgitta Henze (Oberaufseherin, Kapo) in bewährten Händen. Als junge Israelin erschien die Choreographin der Produktion Liron Kichler auf der Bühne. Eine fulminante Leistung erbrachte der von Michael Preiser famos einstudierte Opernchor des Theaters Krefeld und Mönchengladbach.

© Matthias Stutte

Fazit: Insgesamt haben wir es hier mit einer grandiosen, innovativen und ungemein eindringlichen Aufführung zu tun, die geradezu preisverdächtig ist und deren Besuch dringendst empfohlen wird!

Ludwig Steinbach, 3. Mai 2025


Die Passagierin
Mieczysław Weinberg
Theater Krefeld

Premiere in Krefeld: 19. April 2025
Besuchte Aufführung: 1. Mai 2025

Inszenierung: Dedi Baron
Musikalische Leitung: GMD Mihkel Kütson
Niederrheinische Sinfoniker