Graz: Gastspiel der Wiener Staatsoper im Musikverein Graz

GLANZVOLLE WAGNER-GALA

»Die Wiener Staatsoper hat ein Opernhaus für ganz Österreich zu sein. Es hat gute Tradition, dass sie diesem Auftrag auch durch Gastspiele innerhalb Österreichs nachkommt. Ich freue mich daher sehr, dass das erste Gastspiel der neuen Direktion uns in den Musikverein Graz führt — und umso mehr, als es von Musikdirektor Philippe Jordan, dem ehemaligen Chefdirigenten der Grazer Oper, geleitet werden wird.«
Dr. Bogdan Roščić, Direktor der Wiener Staatsoper

Der Grazer Musikverein unter seinem Chef Dr. Michael Nemeth hatte gut verhandelt und rasch zugegriffen. So konnte durch den coronabedingten Ausfall einer Japan-Tournee das erste Bundesländer-Gastspiel der Wiener Staatsoper unter dem neuen Staatsoperndirektor in Graz stattfinden. Das Konzert gilt als Auftakt zu einer engen Kooperation des Grazer Musikvereins mit der Wiener Staatsoper.

Das Programm bot wahrlich eine Gala:

Die Walküre, 1.Aufzug und nach der Pause aus derGötterdämmerung: Siegfrieds Rheinfahrt – Siegfrieds Trauermarsch – Brünnhildes Schlussgesang

Christian Thielemann sagte unlängst in einem Gespräch mit Elisabeth Kulman – etwa ab Minute 30:30 – zum Thema konzertante Opernaufführungen sinngemäß, der 1.Akt Walküre sei konzertant schön, aber werde erst durch einen guten Regisseur spannend. Elisabeth Kulman ist übrigens morgen für ihr Abschiedskonzert in Graz. Der OF wird berichten.

Diesmal muss ich Thielemann widersprechen: wir erlebten an diesem Abend in Graz ungemein spannendes Musiktheater, weil die erfahrenen Protagonisten genau jene von Thielemann so unverzichtbar genannte Spannung zwischen den drei Figuren durch Blickkontakte, Auf-und Abgänge, sparsame Gesten und Körperwendungen überzeugend zu vermitteln vermochten. Alle sind erfahren in ihren Partien, aber nur die überragende Anja Kampe hatte vor über 8 Jahren zweimal die Sieglinde an der Wiener Staatsoper gesungen. An der Wiener Staatsoper wird sie heuer als Senta und Kundry gastieren, bevor sie die Wozzeck-Marie in einer Neuproduktion unter Philippe Jordan darstellen wird. Mit der Sieglinde an der Seite von Placido Domingo gelang Anja Kampe vor Jahren an der Washington National Opera der internationale Durchbruch. Mit dieser Rolle gastierte sie mit größtem Erfolg bislang u.a. in Los Angeles, San Francisco, München, Berlin, Barcelona, Paris, London und Bayreuth.

Sie verstand es an diesem Abend ausgezeichnet, mit ihrer warmen, in allen Lagen und dynamischen Abstufungen meisterlich geführten Stimme und mit glänzender Textartikulation die Figur der Sieglinde berührend und überzeugend zu gestalten. Der Australier Stuart Skelton war als Siegmund ein adäquater Partner mit kraftvoller, nie ihren Stimmsitz verlierender Heldentenorstimme und mit bemerkenswert klarer Textartikulation. Eine kleine Anmerkung sei erlaubt: an einigen wenigen Stellen gelang der Übergang von Gesungenem zu Rezitativischem nicht ganz ohne Bruch, etwa gleich beim ersten Einsatz Wess Herd dies auch sei, hier muss ich rasten. Eindrucksvoll waren seine machtvollen, aber nicht aus dem Gesamtbogen fallenden Wälse-Rufe und die strahlenden Spitzentöne. Im Mai 2022 wird er in den beiden Ring-Zyklen der Wiener Staatsoper Siegmund sein und sicherlich auch dort überzeugen. Kwangchul Youn war der gebührlich-bedrohliche und bassgewaltige Hunding. Alle drei passten für mich übrigens sowohl stimmlich als auch in der Interpretation ideal zusammen.

Die überzeugenden Gesangsleistungen wären natürlich nicht möglich gewesen, hätte nicht das Orchester der Wiener Staatsoper mit Rainer Honeck am Konzertmeisterpult glanzvoll gespielt und einfühlam begleitet. Der Musikdirektor der Wiener Staatsoper Philippe Jordan übrigens auch ein „Walküren-Debütant“ an der Staatsoper! – leitete Orchester und Solisten ungemein konzentriert. Die Positionierung des Orchesters auf dem Podium mit den Solisten davor ermöglicht dem Publikum, so viele Details der Partitur nachzuhören, wie das bei szenischen Aufführungen – dort auch eventuell „abgelenkt“ durch Bühnenbild und Regie – nie möglich ist. Gleichzeitig besteht natürlich die Gefahr, dass das große Orchester die Stimmen in die Defensive drängt (wie ich es zuletzt beim Rosenkavalier in Stuttgart teilweise erlebt hatte). Dies geschah an diesem Abend überhaupt nicht – und das aus zwei Gründen: Die drei Stimmen sind genuine Wagner-Organe, die nie zu forcieren genötigt waren, und der Dirigent schaffte es immer vorbildlich, die Balance zwischen Stimmen und Orchester zu wahren und trotzdem die Vielfalt der Orchesterpartitur plastisch herauszuarbeiten. Nur zwei Beispiele seien herausgegriffen: die prachtvollen Cello-Soli und die furios-glanzvollen 25 Schlusstakte des 1.Aktes, deren umwerfende Brillanz sonst oft in der szenischen Aktion und dem Fallen das Vorhang ein wenig untergehen.

Nach der Pause folgten aus der Götterdämmerung nahtlos aneinandergefügt Siegfrieds Rheinfahrt, Siegfrieds Trauermarsch und Brünnhildes Schlussgesang. Ich hatte den Eindruck, dass nun Philippe Jordan und das Orchester geradezu entspannt und ganz dem Duktus der Partitur hingegeben musizierten – das war Wagnerorchesterklang auf allerhöchstem Niveau. Anja Kampe war eine in ihrer respekteinflößenden Ruhe und mit ihrem alles überstrahlenden (und nie forciertem!) Sopran eine maßstabsetzende Brünnhilde. Das zum allerletzen Mal in gleißender, narkotisch schwerer Süße aufblühende Wiedergeburt-Motiv (Zitat aus dem großartigen und leider nicht online verfügbaren Programmheftbeitrag von Harald Haslmayr) beschloss zweifellos einen bedeutenden Abend in der Geschichte des Grazer Musikvereins. Hier ein Bild der Verantwortlichen für dieses uneingeschränkte Musikglück – schade, dass der Konzertmeister des „weltbesten Opernorchesters“ nicht auch noch auf das Foto gebannt werden konnte:

Das Publikum im vollen Stefaniensaal spendete – mit einer atemanhaltenden Pause nach dem Verklingen des Schlussakkordes – heftigen und begeisterten Beifall samt Bravorufen. Natürlich stand auch Philippe Jordan – kurz vor seinem 47.Geburtstag – im Mittelpunkt des Beifalls. Viele im Publikum erinnern sich an die Jahre 2001 bis 2004, als er Chefdirigent der Oper Graz war. Ich erinnere mich ganz genau an seine erste Neueinstudierung: Eugen Onegin. Da war allen Kundigen im Publikum klar, dass der damals 27-jährige Philippe Jordan eine internationale Karriere machen würde. Übrigens haben auch die damals noch unbekannten Mariusz Kwiecień (Onegin) und Tamar Iveri (Tatjana) von Graz aus ihren Weg auf die internationalen Bühnen gemacht. Eines steht fest:

Wir können uns auf die angekündigte weitere enge Kooperation des Grazer Musikvereins mit der Wiener Staatsoper gespannt freuen!

Hermann Becke, 13.10.2021

Hinweise:

– Auf den nächsten für Opernfreunde bedeutenden Termin des Grazer Musikvereins sei hingewiesen: