Graz: Leo Nucci – James Vaughan

Belcanto-Altmeister begeistert!

Der alljährliche Liederabendzyklus des Musikvereins für Steiermark ist immer sehr prominent besetzt. Diesmal begann er mit Leo Nucci am Flügel exzellent begleitet vom irischen Pianisten James Vaughan. Das war natürlich kein herkömmlicher Liederabend, sondern eine Demonstration höchster italienischer Gesangskunst am Beispiel von berühmten Opernszenen. Es war im Grunde jenes Programm, das am 13. März 2019 in der Wiener Staatsoper anlässlich von KS Leo Nuccis 40-jährigem Staatsopernjubiläum erklungen war. Da kann ich mich nur den Worten von Dr. Peter Dusek anschließen, der damals in seiner Kritik schrieb: Es gibt sie ja doch – Persönlichkeiten, die die Gesetze der „Zeit“ widerlegen: Leo Nucci ist einer davon. Der 1942 in der Nähe von Bologna geborene Bariton debütierte vor 40 Jahren an der Wiener Staatsoper und lieferte 4 Jahrzehnte später ein phänomenales Solistenkonzert mit dem ausgezeichneten britischen Pianisten James Vaughan.

Und ich kann nur wiederholen, was ich bereits im Jahre 2015 geschrieben hatte, als Leo Nucci – damals begleitet von einem philharmonischen Kammerensemble – das erste Mal in Graz auf dem Konzertpodium zu Gast war:

Allen, die sich für italienische Gesangstechnik ernsthaft interessieren, kann man nur dringend empfehlen, Künstlern wie Leo Nucci aufmerksam zuzuhören und sie genau zu beobachten. Da erlebt man, was Atemstütze – appogiare la voce – bedeutet: die optimale Verankerung der Stimme im Körper und ein ruhiges Fließen des Atems, ohne die Luft zu stauen. Leo Nucci bewies an diesem Abend, dass mit einer perfekten italienischen Gesangstechnik auch im fortgeschrittenen Alter … jene großen Melodiebögen gespannt werden können, die für die italienische Belcantoliteratur unverzichtbar sind.

Beginnen wir aber zunächst mit dem Pianisten, der zum ersten Male in Graz zu erleben war: James Vaughan erwies sich als ein perfekter Gestalter der Opernpartituren. Das begann schon mit dem brillanten Beginn bei der Einleitung zu Leoncavallos Prolog des Tonio und setzte sich den gesamten Abend fort. Ihm gelang es immer, den Orchesterklang erlebbar zu machen und mit Sensiblität auf die Bedürfnisse des Sängers einzugehen – kein Wunder, ist er doch ein ungeheuer erfahrener Opernkorrepetitor, den Ricardo Muti an die Mailänder Scala geholt hatte. Seit damals begleitete James Vaughan regelmäßig Leo Nucci bei dessen Recitals. Es ist reizvoll, dies etwa auch bei zwei Nummern des Abends zu vergleichen: auf youtube kann man Nucci und Vaughan sowohl bei Tostis Non t’amo più als auch im großen Monolog des Gérard aus Giordanos Andrea Chénier in einem Mitschnitt aus der Mailänder Scala des Jahres 2009 nacherleben. Aber zusätzlich zu den Opernszenen überzeugte James Vaughan auch mit zwei Solostücken als subtiler Gestalter: nämlich mit Clair de lune aus der Suite bergamasque von Claude Debussy und mit dem effektvollen Klagelied aus dem Klavierzyklus Goyescas von Enrique Granados. Das waren keine „Lückenbüsser“ zwischen den Gesangshits, sondern klug ausgewählte eigenständige Beiträge des Pianisten.

Bei seinem ersten Auftritt in Graz vor fünf Jahren war bei Leo Nucci eine leichte abendliche Indisposition zu registrieren. Diesmal – immerhin bereits im 79. Lebensjahr stehend – war Leo Nucci prächtig disponiert und kostete den Abend voll aus. Natürlich hat seine Stimme nicht mehr die warm-füllige Breite vergangener Jahre (das versucht er, ein wenig mit verstärkter Nasenresonanz auszugleichen), aber sein langer, ruhiger Atem, seine Fähigkeit, wunderbare Legatobögen zu spannen, und die glanzvoll-metallischen Spitzentöne sind bewundernswert – ein wahrhaft großer Künstler!

Das offizielle Programm war corona-bedingt ohne Pause auf 55 Minuten beschränkt – 6 große Opernszenen, 2 Lieder von Tosti und die beiden erwähnten Klavierstücke. Aber im Zugabenteil gab es dann noch drei große Opernhits (Rigoletto, La Traviata und Andréa Chenier) und zwei neapolitanische Lieder, diese von James Vaughan auswendig begleitet – auch das ein Gag, den die beiden bereits an der Mailänder Scala vor über 15 Jahren erprobt hatten. Schon damals war bei Non discordar di me das Publikum zum Mitsingen eingeladen. Diesmal in Graz sagte Maestro Nucci knapp und keinen Widerspruch duldend zum Publikum: Maske weg, mitsingen! Das ließ sich das Grazer Publikum nicht zweimal sagen und sang beherzt den Refrain mit, wie auf der Facebook-Seite des Musikvereins nachgehört werden kann.

Das Publikum war begeistert – man hatte einen großen, einen sympathischen Sänger erleben dürfen, der das Konzertpodium wahrhaft zur Bühne machte. Jede Figur war ehrlich gestaltet und erfüllt – trotz der eminenten Routine einer über 50-jährigen Bühnenkarriere entstand für das Publikum jede Rolle im Moment der Wiedergabe neu. Das kann man nur in einem Live-Konzert erleben und wir sind dankbar, dass uns der Musikverein solche Erlebnisse ermöglicht.

Hermann Becke, 16. 10. 2020

Wichtiger Hinweis:

Es geht in Graz vokal hochkarätig weiter: im Oktober und November kommen JUAN DIEGO FLOREZ und CÉCILE RESTIER, dann ELĪNA GARANČA und MALCOLM MARTINEAU und zuletzt als Ersatztermin für das in der vorigen Saison ausgefallene Konzert PIOTR BECZAŁA und HELMUT DEUTSCH

Für Opern- und Stimmfreunde lohnt sich also wahrlich die Reise nach Graz!