Graz: Liederabend mit Louise Alder und Joseph Middleton

Britische Liedkunst auf höchstem Niveau

Musikvereinsintendant Michael Nemeth versteht es seit Jahren ausgezeichnet, nicht nur arrivierte Gesangspersönlichkeiten für den jährlichen Grazer Liederabonnementzyklus zu gewinnen, sondern auch immer wieder junge vielversprechende Talente zu entdecken und behutsam auf ihrem Weg zur Spitze zu begleiten. Ein erfreuliches Beispiel dafür ist die englische Sopranistin Louise Alder. 2015 feierte der Grazer Musikverein seinen 200.Geburtstag – und dies unter anderem mit einer Liedgala, zu der auch die damals noch wenig bekannte Louise Alder eingeladen war. Damals hatte sie noch nicht jene Preise gewonnen, die heute auf ihrer Website prangen: „Louise won best Young Singer at the Crictics‘ Circle Music Awards 2019 and International Opera Awards 2017 and represented England in the BBC Cardiff Singer of the World Competition 2017, winning the third round and the Dame Joan Sutherland Audience Prize.“

2019 hatte dann Louise Alder schon ihren eigenen Liederabend und war in Graz Young Artist in Residence. Weitere drei Jahre später kommt nun Louise Alder zu ihrem diesjährigen Liederabend nach Graz – ihr Begleiter ist der englische Pianist Joseph Middletonheute einer der führenden Liedbegleiter Englands, der in den Medien auch bereits als der Erbe des legendären Gerald Moore bezeichnet wurde. Louise Alder und Joseph Middleton arbeiten regelmäßig zusammen – im Netz gibt es dafür eine Reihe von eindrucksvollen Beispielen.

Louise Alder hatte seit dem ersten Auftreten in Graz bereits eine große internationale Karriere sowohl auf der Opernbühne als auch auf dem Konzertpodium gemacht.

Nach Graz kam sie diesmal gleichsam direkt von der Wiener Staatsoper, wo sie neuerlich sehr erfolgreich als die Sophie in der letzten Rosenkavalier-Serie war. Zitat aus einer Kritik: Wie bereits vor einem Jahr war Louise Alder mit ihrem leuchtkräftigem Sopran, der aber auch zu zart schwebenden Pianissimi fähig ist, eine entzückende Sophie. Dazu aus aktuellem Anlass ein Foto:

Für den Liederabend in Graz haben Louise Alder und Joseph Middleton ein Programm gewählt, das sich der ausklingenden Romantik um die Wende des 19. zum 20.Jahrhundert widmete. Begonnen wurde mit Sechs Liedern (1884-88) von Edvard Grieg, gefolgt von den Sieben Frühen Liedern des 20-jährigen Alban Berg (1905 -1908). Es folgten sechs Lieder (1913/14) der ebenfalls 20-Jährigen Lili Boulanger und den Abschluss bildeten die Vier letzten Lieder des altersweisen, über 80-jährigen Richard Strauss (1948). Alle diese Lieder haben in den letzten Jahren Louise Alder und Joseph Middleton (laut Guardian: ‘two of classical song’s brightest artists’ ) zum Teil mehrfach miteinander in Liederabenden und teils auch in CD-Aufnahmen aufgeführt. Hier für Interessierte einige Aufnahmehinweise:

Die Grieg-Lieder sind auf dieser CD nachzuhören. Die letzten beiden der Vier letzten Lieder von Richard Strauss können hier in einer Live-Aufnahme mit Alder/Middleton aus dem Oktober 2020 in Leeds nacherlebt werden.

Ich wurde auch diesmal in meiner langjährigen Erfahrung, ja ich möchte fast sagen in meiner inzwischen vorgefassten Meinung bestätigt: die britischen Liedinterpreten der Spitzenklasse haben seit Generationen ein besonderes Verhältnis zur europäischen Liedliteratur und sind da ihren in Stimme und Technik gleichrangigen amerikanischen Kolleginnen und Kollegen in der Interpretation überlegen. Mit diesem Abend haben dies Louise Alder und Joseph Middleton eindrucksvoll bestätigt – sie haben sich in der Spitzenklasse der Liedinterpretation etabliert! Das Zusammenspiel zwischen Musik und Sprache ist perfekt, sei es nun im deutschen Lied oder in den französischen Mélodies. Alder und Middleton sind ein ideal auf einander eingestimmtes Duo – an diesem Abend erlebte man Liedinterpretation auf höchstem Niveau und alle kleinen, persönlich empfundenen Einschränkungen sind unter dieser Prämisse zu verstehen.

Bei den einleitenden Grieg-Liedern ist mir eine gewisse Äußerlichkeit aufgefallen: die wunderschön timbrierte Sopranstimme ist deutlich im Volumen gewachsen. Da fehlte mir ein wenig der Ausgleich zwischen breit ausladendem Forte und einem manchmal allzu behauchten Piano. Bei den Berg-Liedern vermisste ich ein wenig den jungmädchenhaft-unbefangenen Zugang, mit dem mich Louise Alder bei den letzten Auftritten immer besonders eingenommen hatte – nun stand beinahe schon souveräne Divenhaltung im Vordergrund.

All diese – ich wiederhole: minimalen! – Einschränkungen fielen im zweiten Teil vollständig weg!

Bei den fünf ausgewählten Boulanger-Liedern war Alders einfühlsame Interpretation der französischen Texte von Francis Jammes ebenso uneingeschränkt zu bewundern wie die schwebenden hochliegenden Piano-Phrasen und die tiefliegenden Passagen in Nous nous aimerons. Joseph Middleton gestaltete die von Fauré inspirierte Begleitung überaus feinfühlig und reagierte wunderbar auf Harmoniewechsel. Die fünf bei uns kaum bekannten Lieder waren zweifellos ein Höhepunkt des Abends, bevor die Vier letzten Lieder von Richard Strauss den eindrucksvollen Schlusspunkt setzten. Auf der Richard-Strauss-Hompepage kann man nachlesen: Hermann Hesse ist überrascht, als der Komponist, dem er in einem Schweizer Hotel zufällig begegnet, ihm die Vertonung einiger seiner Gedichte ankündigt. Hesse respektiert den "schönen alten Herren", ist ihm und seiner Musik jedoch nicht zugetan. Die "Letzten Lieder" seien "virtuos, raffiniert, voll handwerklicher Schönheit, aber ohne Zentrum, nur Selbstzweck". Wenn man das im Bewußtsein hat und noch dazu Vorbehalte zu einer Aufführung mit Klavierbegleitung hat, dann wurde man an diesem Abend eines Besseren belehrt! Louise Alder und Joseph Middleton gingen mit tief empfundener Anteilnahme und Konzentration an die Interpretation und überzeugten mich restlos! Mit schier endlosem Atem spannte die Sopranistin wunderbare Strauss-Kantilenen und der Pianist konnte zwar das Orchester nicht vergessen machen, hielt allerdings die Spannung so überzeugend, dass das Publikum eine Atempause machen musste, bevor am Ende der große und verdiente Beifall losbrach.

Es gab eine einzige Zugabe – und die war nicht nur zum Progamm, sondern auch zur Situation in unserer heutigen Welt wunderbar gewählt:

Morgen von Richard Strauss.

Es war ein sehr langsame, ruhige und völlig unmanirierte Interpretation – das Publikum war merklich berührt!

Und so kann ich den Schluss-Satz aus meiner Kritik des letzten Liederabends im Jahre 2019 aufgreifen und weiterentwickeln. Damals schrieb ich: ……man ging mit der Gewissheit nachhause, dass von Louise Alder eine Karriere als bedeutende Liedgestalterin erwartet werden darf. Diesmal war es für alle im Saal evident, dass man eine bedeutende Liedgestalterin und einen ebenso bedeutenden Liedbegleiter erlebt hatte. Und um an Anfang zurückzukommen: Danke an den vorausblickenden Musikvereinsintendanten für die frühe Einladung von Louise Alder – verbunden mit der Hoffnung, dieses exzellente britische Liedduo wieder einmal in Graz erleben zu dürfen!

22.4.2022, Hermann Becke

Hinweis: Trotz ihrer Jugend kann die 35-jährige Louise Alder schon auf eine stattliche Anzahl von CD-Aufnahmen verweisen