Frankfurt: „Aus einem Totenhaus“, Leoš Janáček

Bericht von der Premiere am 1. April 2018

Schonungsloser Blick auf die menschliche Rohheit

David Herrmann ist ein Geschichtenerzähler, der gerne große Bögen spannt. Wo es keine allesumspannende Geschichte gibt, da denkt er sich eine aus. Nun hat sich der Regisseur Leoš Janáčeks letztes Bühnenwerk „Aus einem Totenhaus“ vorgenommen, das in der Vorlage mehr einem episodenhaften Oratorium als einer klassischen Handlungsoper gleicht. Der Komponist hatte Dostojewskis Bericht aus einem sibirischen Straflager drei Monologe entnommen, in denen Häftlinge von ihren Mordtaten erzählen. Eingepackt sind diese Erzählungen in skizzenhafte Schilderungen eines brutalen und rohen Lageralltags. Mitgefühl mit den Sträflingen ist nicht beabsichtigt. Allenfalls die Figur eines politischen Gefangenen, der zu Beginn der Oper eingeliefert, mißhandelt und schließlich unverhofft am Ende wieder entlassen wird, bietet einen Ankerpunkt für das Identifikationsbedürfnis des Publikums. Hier setzt David Herrmann an. Der politische Gefangene Gorjancikov ist bei ihm ein Journalist aus unserer Gegenwart. Die letzten Takte des Orchestervorspiels zeigen ihn bei der Arbeit am Laptop. Er wird verhaftet und in ein Straflager verschleppt, dessen genaue Verortung Regie und Bühnenbild (Johannes Schütz) vermeiden. Wie leicht und wie billig wäre es gewesen, hier aktuelle Bezüge etwa zu Guantanamo oder historische zu den Konzentrationslagern und Gulags des 20. Jahrhunderts herzustellen. Immerhin deuten einige Kostüme (Michaela Barth) an, daß wir uns in Rußland befinden: Der Lagerkommandant etwa trägt eine Uschanka, und später taucht ein orthodoxer Pope auf. Das Bühnenbild nutzt die Doppeldrehbühne des Frankfurter Opernhauses, um mit einigem Aufwand eine unwirtliche, trostlose Leere plastisch werden zu lassen. Halbtransparente Wandfragmente wandern wie überdimensionale, weit gespreizte Lamellen vorüber und deuten Räume mehr an, als daß sie diese umgrenzen.

Gordon Bintner (Alexandr Petrovič Gorjančikov) und Ensemble

Schon wieder müssen wir das Adjektiv „surreal“ für eine Operninszenierung gebrauchen, denn was sich in den knapp 90 Minuten nun vor den Augen der Premierenbesucher ausbreitet, ist ein Horrortrip durch eine disparate Vorhölle, in die sich der verhaftete Journalist unvermittelt geworfen sieht. Statt der Auspeitschung zu Beginn zertrümmert man ihm mit einem Hammer die Knochen beider Hände. Zur Behandlung der Verletzungen wird er auf einer Pritsche festgebunden. Die Figur des Filka Mozorov interpretiert Regisseur Herrmann als Lagerarzt, der gefährlich mit einer Knochensäge herumhantiert, und von dem deswegen zunächst nicht klar ist, ob er den Neuankömmling foltern oder kurieren will. Nebenbei erzählt er die Geschichte des Mordes, dessentwegen er in das Lager gesteckt wurde. Vincent Wolfsteiner zeichnet diese Figur durch seinen schneidenden Charaktertenor mit latentem Hang zum hinterhältigen Wahnsinn.

Samuel Levine (Der ganz alte Sträfling), Karen Vuong (Aljeja), Gordon Bintner (Alexandr Petrovič Gorjančikov; liegend) und Vincent Wolfsteiner (Filka Morozov)

Die zweite Mordgeschichte erzählt AJ Glueckert als Skuratov mit gut fokussiertem Tenor, dem er den Ton verzweifelter Leidenschaft abzugewinnen weiß. Er hatte den Zwangsverlobten seiner großen Liebe Luisa erschossen. Schon sieht man in einem der vorüberziehenden Raumfragmente den Erschossenen tot über einem Eßtisch hängen, während ein emsiger Beamter im Schutzanzug die Spuren des Tatorts sichert. Im Mittelteil der Oper hat Janáček zwei kurze Theaterspiele platziert, welche die Häftlinge zur eigenen Belustigung aufführen. In der Frankfurter Neuproduktion geraten sie zu Demonstrationen sinnloser Grausamkeit eines bösartigen Mobs an einem Außenseiter. Szenisch profilieren kann sich hier besonders Brandon Cedel, der als namenloser Sträfling 1 zwar wenig zu singen hat, dafür aber mit beeindruckender Bühnenpräsenz den Handlungsverlauf des zweiten Hauptteils entscheidend prägt. Geradezu beängstigend ist die Überzeugungskraft, mit der er einen hinterhältig-sadistischen Drahtzieher spielen kann.

Der dritte Teil ist ganz auf Johannes Martin Kränzle als Siskov zugeschnitten. Auch er schildert, dabei zunehmend irrer werdend und sich in eine regelrechte Raserei hineinsteigernd, ein Gewaltverbrechen, den Eifersuchtsmord an seiner Ehefrau. In seiner langen Erzählung nimmt er mit unterschiedlicher Stimmfärbung verschiedene Rollen ein und nutzt die dankbare Vorlage weidlich zur Profilierung als gar nicht so heimlicher Hauptdarsteller.

Johannes Martin Kränzle (Šiškov) und Vincent Wolfsteiner (Filka Morozov)

Ein wenig stellt er damit Gordon Bintner in den Schatten, der als eine der wenigen nicht vom Wahnsinn angefressenen Figuren Qualen, Verzweiflung und Aufbäumen des Journalisten Gorjancikov sehr eindrücklich mit seinem kernigen Bariton beglaubigt. Was der Zuschauer zu sehen bekommt, ist sein Alptraum. Gemeinsam mit ihm durchmißt das Publikum diesen Kreis der Hölle, von dem der Regisseur nicht zu viel versprochen hat, wenn er in ihm einen Widerschein von Dantes Inferno erblickt. Als weiterer Sympathieträger steht ihm Karen Vuong in der Hosenrolle des Aljeja zur Seite, die ihrem runden Sopran anrührende Töne des Mitgefühls abzugewinnen weiß. Die zahlreichen weiteren Klein- und Kleinstrollen sind trefflich aus dem Ensemble besetzt. Mit einem feinen, profilierten Auftritt macht der bewährte Peter Marsh als fröhlicher Sträfling auf sich aufmerksam.

Besonders heikel ist die Aufgabe des Orchesters. Immer wieder hatte man bei Aufführungen und Einspielungen des Werkes den Eindruck, hier habe jemand einen Film mit der falschen Tonspur unterlegt. Mal klang es zu perfekt und poliert, mal zu folkloristisch. Tito Ceccherini läßt nun das Frankfurter Opernorchester derb und mit geradezu ungeschlachter Brutalität aufspielen. Janáčeks Expressionismus erklingt roh und unbehauen, Intonationstrübungen der Streicher in den exponierten Lagen eingeschlossen. Was man zunächst für technische Schwäche halten wollte, hat Methode. Sehr bald gewinnt man die Gewißheit, daß diese rohe Derbheit genau den der Textvorlage angemessenen Ton trifft.

Das Frankfurter Produktionsteam pfropft dem Stück keine Moral, noch nicht einmal eine Botschaft auf. Es präpariert einfach nur Janáčeks schonungslosen Blick auf die menschliche Grausamkeit und Boshaftigkeit schmerzhaft frei. Das ausgestellte Leiden des Journalisten ist so sinnlos wie seine unverdiente Freilassung am Ende. Es gelingt dem engagiert spielenden und vorzüglich singenden Ensemble, einen immer stärker werdenden Aufmerksamkeitssog zu erzeugen, der das Publikum packt und erschüttert. Die dadurch hervorgerufene Beklommenheit wirkt im zunächst langsam und schütter einsetzenden Schlußapplaus nach, der erst in der Bewertung der Einzelleistungen zu angemessener Stärke findet, die Rückkehr des Publikumslieblings Kränzle nach krankheitsbedingter Abwesenheit feiert und auch dem Regieteam schließlich ungeteilte Anerkennung zukommen läßt.

Weitere Vorstellungen gibt es am 6., 8., 12., 15., 21., 27. und 29. April.

Eine vorzügliche Audio-Einführung der Frankfurter Opern-Dramaturgie ist online verfügbar.

Michael Demel, 2. April 2018

© Bilder: Barbara Aumüller