Bericht von der Premiere am 20. Februar 2022
Musikalische Kunstfertigkeit und dramaturgische Schwächen
Nicht jede Ausgrabung einer vergessenen Oper fördert ein Juwel zu Tage. Das gilt zumal für Werke eines ansonsten erfolgreichen Komponisten. Gerade bei Rossini ist Vorsicht geboten, wenn einem seiner Musiktheaterwerke schon beim zeitgenössischen Publikum kein nachhaltiger Erfolg beschieden war und mehrere Generationen von Kunstschaffenden nicht auf die Idee gekommen sind, es aus der Versenkung zu holen. So liegt der Fall bei Bianca e Falliero, einem Melodramma in zwei Akten, das am 26. Dezember 1819 an der Mailänder Scala aus der Taufe gehoben wurde und anschließend dem Vergessen anheimfiel. Es geht um die geplante Zwangsverheiratung der titelgebenden Bianca mit einem venizianischen Patrizier. Biancas Vater will sich mit der von ihm arrangierten Ehe finanziell sanieren. Bianca aber liebt den Kriegshelden Falliero. Das Paar will fliehen, wird zuvor aber vom Vater überrascht. Falliero rettet sich auf das Gelände der spanischen Botschaft. Das galt in Venedig seinerzeit als Hochverrat, der mit dem Tode bestraft wurde. Falliero wird der Prozeß gemacht. Unter seinen drei Richtern befinden sich ausgerechnet der rachsüchtige Vater und der verschmähte Bräutigam. Bianca platzt in den Prozeß und verwendet sich für ihren Geliebten. Der verschmähte Bräutigam hat ein weiches Herz, verzichtet auf Bianca und verhindert das Todesurteil für Falliero.
Theo Lebow (Contareno), Heather Phillips (Bianca; kniend), Beth Taylor (Falliero) und Kihwan Sim (Capellio)
Das ist keine Kurzfassung, das ist bereits alles. Mehr passiert nicht. Es ist ein holzschnittartiges Libretto mit dünner Handlung und schwacher Dramaturgie. Auch das bewährte Regiehandwerk von Tilmann Köhler und engagierte Schauspielleistungen vermögen das nicht zu ändern. Dabei hatte der Beginn höhere Erwartungen geweckt: Falliero kehrt als Kriegsheld nach Venedig zurück und wird in einem Staatsakt gefeiert. Die Regie läßt ihn bei seinem Auftritt straucheln und stürzen, zeigt ihn somit als schwachen Helden. Der Staatsakt wird sodann mit feinem Humor karikiert. Doch dieser Fokus auf die politische Überwölbung wird nicht weiter verfolgt. Auch das Versprechen einer ironischen Brechung der Handlung wird nicht eingelöst. Es bleibt in homöopathischer Dosierung lediglich im dezenten gestischen Humor des Opernstudiomitglieds Carlos Andrés Cárdenas präsent, der in gleich drei Rollen als Staatsdiener schlüpfen darf und neben seinen mimischen Qualitäten auch mit einem attraktiven lyrischen Tenor auf sich aufmerksam macht.
Es ist überhaupt das Beste, das man von Bühnenbild und Regie sagen kann, daß sie den Sängern die Gelegenheit bieten, ungestört ihre Vokalkunststückchen zu servieren, die das Wesen einer Rossini-Oper ausmachen. Karoly Risz hat ein Bühnenbild bauen lassen, welches aus zwei bühnendeckenhohen Halbrotunden aus hellem Holz besteht, die ineinander und gegeneinander verdreht werden können, mal einen Innenraum freigeben, oft aber eine gerundete Fassade zeigen, vor der die Protagonisten das machen können, was in der Regie eigentlich verpönt, akustisch aber höchst vorteilhaft ist, nämlich an der Rampe direkt ins Publikum zu singen.
Diese Oper hätte man über weite Strecken auch konzertant aufführen können. Die mitunter doch recht langen Arien, Duette und Ensembles werden häufig mit auf die Rotunden projizierten Videos visuell aufgehübscht, welche Nahaufnahmen des Gesichts von Bianca zeigen und kaum szenischen Mehrwert besitzen. Mal beschmiert sie sich in Zeitlupe mit Lippenstift das Gesicht, mal posiert sie mit einem Revolver, der sich als Schokoladenattrappe herausstellt, um dann wiederum in Zeitluppe verzehrt zu werden. Immerhin gelingt Tilmann Köhler eine hübsche Schlußpointe, in welcher Bianca zu einem unerwarteten Akt der Selbstbefreiung vom tyrannischen Vater und ichbezogenen Liebhaber zugleich schreitet und der dünnen Handlung nachträglich den Sinn einer emanzipatorischen Entwicklungsgeschichte aufpfropft.
Daß man trotz der dramaturgischen Schwächen und Ereignisarmut des Librettos, trotz zum Scheitern verurteilten Bemühungen der Regie um Sinnstiftung und szenische Belebung mit geschickter Personenführung den Besuch dieser Produktion nicht bereuen muß, liegt an der guten Besetzung. In den Titelrollen machen zwei junge Gastsängerinnen auf sich aufmerksam. Die Hosenrolle des Falliero bietet eine Wiederbegegnung mit der Mezzosopranistin Beth Taylor, welche noch von ihrem Auftritt in Händels Amadigi zum Saisonbeginn in bester Erinnerung geblieben ist. Wiederum erweist sich das geradezu maskuline Timbre ihrer Stimme mit satter Tiefe und kraftvoller Mittellage als ideal für eine Hosenrolle. In passendem Kontrast dazu präsentiert Heather Phillips als Bianca ihren glockenhellen Sopran und überzeugt in ihrem Europadebüt ebenso mit glasklar präsentierten Koloraturen wie mit einem intensiven Ton, der es ihr erlaubt, mit leichter, gar nicht großer Stimme die dargestellte Leidenschaft ihrer Figur musikalisch zu beglaubigen. Ensemblemitglied Theo Lebow erweist sich nach seinem fulminanten Jago in Rossinis Version des Otello erneut als Idealbesetzung für einen Tenor-Bösewicht. Den tyrannisch-durchtriebenen Brautvater Contareno durchlebt er mit seinem koloraturwendigen und höhensicheren Tenor. Die helle Stimme besitzt eine charakteristische herbe Färbung, der Lebow bei Bedarf noch eine genau dosierte Schärfe beimischen kann.
Bilderbuch-Bösewicht: Theo Lebow
Mit seinem balsamischen und doch belcanto-beweglichen Baßbariton zeichnet Kihwan Sim den verhinderten Bräutigam Capellio stimmlich derart attraktiv, daß man nicht nachvollziehen kann, warum Bianca ihn verschmäht. Mit seinen wenigen baßgesättigten Tönen fügt sich Božidar Smiljanić als Doge in eine ausgezeichnete Besetzung.
Das Orchester unter der Leitung von Giuliano Carabella präsentiert sich als aufmerksamer Begleiter, trifft agil und wendig den richtigen Rossini-Ton und darf in einigen Vorspielen zeigen, daß die Virtuosen nicht bloß auf der Bühne zu finden sind.
So ist das eben bei Rossini: Für die literarischen Qualitäten von Libretti und die Erfordernisse bühnenwirksamer Handlungen hatte er wenig Gespür. Der Drive seiner Crescendo-Walzen, die delikaten harmonischen Färbungen seiner Ensembles, über die auch Bianca e Falliero reichlich verfügt, entfalten sich unabhängig vom dramaturgischen Anlaß. Rossini verwendete mitunter ein- und dieselben musikalischen Mittel für gegensätzliche szenische Wendungen, tauschte und mischte Arien aus unterschiedlichen Opern untereinander. Das gibt seiner Musik bei aller Kunstfertigkeit und Raffinesse eine gewisse Beliebigkeit. Es ist bezeichnend, daß gerade jene Schlußarie Biancas, die beim Zuhörer ohrwurmhaft nachhallt, aus der Oper La donna del lago entnommen ist.
Michael Demel / 1. März 2022
© der Bilder: Barbara Aumüller