Frankfurt: „Warten auf Heute“, Arnold Schönberg

Premiere am 16. Januar 2022

Herausragende Teile fügen sich zum stimmigen Ganzen

Arnold Schönberg ist der große Säulenheilige in der musikalischen Moderne des vergangenen Jahrhunderts. Seine Bedeutung wird von der Musikwissenschaft vor allem wegen seiner theoretischen Grundlegung für eine nicht-tonale Musik und deren fruchtbringende Wirkung auf seine Schüler und Nachfolger als essenziell eingeschätzt. Im Repertoire haben sich allenfalls seine frühen spätromantischen Werke gehalten (Verklärte Nacht, Gurre-Lieder). Sein im von ihm erfundenen Zwölfton-System komponiertes Hauptwerk gilt als spröde, kompliziert und unzugänglich. Gelegentliche Aufführungen haben meist den Charakter einer intellektuellen Pflichtübung. Warum das so ist und wie man zumindest im Musiktheater das schwierige Material publikumswirksam aufbereiten kann, ist in der aktuellen Neuproduktion an der Oper Frankfurt im Detail zu studieren. Gegeben wird ein Pasticcio, welches mit dem Einakter Von heute auf morgen die allererste Zwölfton-Oper der Musikgeschichte aus dem Jahr 1930 (übrigens an der Oper Frankfurt uraufgeführt), das im selben Jahr herausgebrachte Orchesterstück Begleitmusik zu einer Lichtspielszene und das 1924 zur Uraufführung gebrachte, noch freitonale Monodram Erwartung miteinander verbindet. Dabei zeigt sich, daß es für den Hörer keinen Unterschied macht, ob die Tonfolgen nach einem strengen mathematischen System ausgetüftelt sind wie in den beiden Werken von 1930, oder ob sie wie in dem früher entstandenen Werk der freien Intuition des Komponisten folgen. Mit dem Verzicht auf eine an der tradierten Harmonielehre orientierten Tonfolge fehlt jedenfalls die Grundlage zur Bildung von Melodien oder wenigstens erinnerbaren Motiven. Dafür rücken andere musikalische Parameter in den Vordergrund, ganz besonders die Klangfarbe. Erwartung erweist sich dabei als hochexpressionistisches Stück, das in seinen Stimmungsschwankungen und Ausbrüchen unmittelbar an das gestische Repertoire der Spätromantik anknüpft. Von heute auf morgen kommt dagegen nüchterner, cooler daher, läßt hier und da im komplexen Orchestersatz jazzartige Anklänge aufblitzen. Diese musikalischen Grundhaltungen reagieren adäquat auf die Textvorlagen: In Erwartung nimmt man an einem inneren Monolog einer aufgewühlten und zwischen Stimmungsextremen schwankenden Frau teil, Von heute auf morgen ist ein komödiantisches Konversationsstück. Das vorzügliche Orchester unter der souveränen Leitung von Alexander Soddy präsentiert die komplexen Partituren deutlich in den Nuancen der Klangfarben und gut durchhörbar, erzeugt im Monodram eine nie nachlassende Spannung und verleiht dem Konversationsstück knackigen Drive. Auf dieser Basis entfalten sich Gesangsleistungen, die man sich jeweils idealer kaum wünschen könnte.

Szenen einer Ehe: Elisabeth Sutphen (Die Frau) und Sebastian Geyer (Der Mann)

Elisabeth Sutphen und Sebastian Geyer geben in Von heute auf morgen ein Ehepaar in der Krise und breiten mit großer Textverständlichkeit deren Wortgefechte aus. Es ist bewundernswert, wie selbstverständlich die in atonalen Intervallfolgen geführten Gesangspartien von den beiden bewältigt werden. Wenn man in die Partitur schaut, hält man es kaum für möglich, daß man das ohne absolutes Gehör überhaupt singen kann, da ja eine Orientierung an einem harmonischen Grundgerüst fehlt. Hier aber wirkt es so, als sei diese Art des Singens das Natürlichste von der Welt. Sebastian Geyer besticht mit gut fokussiertem, kernigem und angenehm timbriertem Bariton und zeigt eine seiner besten Leistungen der letzten Jahre. Elizabeth Sutphen weiß mit ihrem hellen Sopran zu gefallen, dem sie sowohl zickige Schärfe als auch divenhafte Strahlkraft abgewinnen kann. Die beiden präsentieren das Paradox eines atonalen Belcanto. Das gilt erst recht für Brian Michael Moore, der mit schlanker, aber saftiger Stimme das Klischee eines schmachtenden Tenors bedienen darf. Juanita Lascarro rundet das vorzügliche Quartett in der kleinen Rolle der Freundin mit fruchtigem Soprantimbre ab.

Camilla Nylund (Eine Frau)

Warum Camilla Nylund zu den weltweit gefragtesten Interpretinnen in lyrisch-dramatischen Partien von Wagner und Richard Strauss zählt, zeigt sie im Monodram Erwartung. Ihre volle, üppige Stimme ist zu dramatischen Exaltationen ohne Schärfe ebenso fähig wie zu zurückhaltenden Tönen im tragfähigen Piano. Gestalterisch zeigt sie sich auf dem Gipfelpunkt ihrer Möglichkeiten, ja überhaupt des Möglichen. Die von ihr gezeigte Vielfalt der Ausdrucksnuancen, ihr expressives Ausdeuten der Textvorlage dürfte kaum überbietbar sein. Das Publikum klebt an ihren Lippen und feiert sie beim Schlußapplaus.

Johannes Martin Kränzle (Jedermann)

Auf einer Stufe mit dieser außerordentlichen Leistung, im gleichen Rang des kaum Überbietbaren hatte zuvor Johannes Martin Kränzle die Zuhörer mit den Sechs Monologen aus „Jedermann“ gerührt und überwältigt. Diesen Liederzyklus von Frank Martin aus dem Jahr 1949 hat das Produktionsteam in den Schönberg-Abend hineingepflanzt. Die musikalischen Mittel wirken inmitten der komplex-ambitionierten atonalen Klanggebilde wie melancholische Rückblicke auf eine vergangene Musiktradition. Das von Schönberg zuvor in höchste Aufmerksamkeit versetzte Ohr hört nun aber auch genauer auf die Textur und die dunklen Farben einer Komposition, die mit vertrauten Mitteln die Seelenlage eines Mannes am Ende seines Lebens auslotet. Kränzle ist für diesen Zyklus der ideale Interpret, da er seit Jahren sowohl bei seinen Liederabenden als auch auf der Opernbühne brilliert. Selbst mit Wagner-Partien ist er nie über die Grenzen seines edel timbrierten Bariton-Materials hinausgegangen. So hat er sich eine in allen Registern intakte Stimme über die Jahre bewahrt, sonor, aber nicht wuchtig in der Tiefe, voll strömend, dabei angenehm schlank in der Mittellage und unangestrengt in der Höhe. In den Texten von Hugo von Hofmannthal gelingt es Kränzle, deren Bedeutungstiefe nachzuspüren, ohne in manieristische Posen zu verfallen. Der Vortrag ist von großer Natürlichkeit und verbindet doch nuancierte Textbehandlung mit genauer musikalischer Ausdeutung.

Die vier Bestandteile des Abends werden vom Produktionsteam mit einem übergeordneten Erzählbogen zu einem Ganzen zusammengefügt. Erzählt wird von der Krise einer Ehe, ihrem Erstarren in Routine, ihrem Scheitern und schließlich dem Ende der beiden getrennten Ehepartner in Vereinsamung. Dabei führt die Inszenierung das Geschehen über mehrere Jahrzehnte hinweg. Es beginnt mit dem Einakter Von heute auf morgen, der vom Entstehungsjahr 1930 in die Aufschwungjahre nach dem Weltkrieg versetzt wird, führt mit der Begleitmusik zu einer Lichtspielszene das Ehepaar in stummem Schauspiel über mehrere Jahrzehnte bis zum Bruch, präsentiert dann den gealterten Ehemann, auf dessen Vereinsamung und Sterben die Jedermann-Monologe bezogen werden, und läßt schließlich die ebenfalls gealterte Ehefrau mit Erwartung zu ihm zurückkehren, wobei sie nach verzweifelter Suche schließlich seine Leiche entdeckt.

Daß diese Konstruktion nicht bemüht wirkt, sondern sich szenisch flüssig und plausibel entfalten kann, verdankt die Aufführung neben engagierten Schauspielleistungen in sämtlichen Teilen dem raffinierten Bühnenbild von Jo Schramm. Es zeigt ein lebensgroßes Puppenhaus mit Erdgeschoß und Dachgeschoß aus hellem Holz, zusammengesetzt aus Modulen, die auseinander, gegeneinander und ineinander verschoben werden können, wodurch sich immer neue Raumeindrücke ergeben. Diese sich stets wandelnden Räume erweisen sich als ideale Spielwiese für das von David Herrmann angeleitete intensive und durchaus komödiantisch-ironische Kammerspiel des ersten Teils, das allmählich ins Groteske und Surreale abgleitet, um schließlich etwas unvermittelt in einer absurden Zombie-Szene mit mildem Splattereffekt zu enden (eine abgerissene Hand bleibt im Fenster eingeklemmt). Die innere Bedrohung der Familienidylle durch einen Sänger, mit dem die Ehefrau flirtet, und eine Freundin, auf die der Ehemann ein Auge geworfen hat, wird hier ein wenig plakativ als äußere Bedrohung durch monsterhafte Untote visualisiert.

Ehehorror als Zombie-Apokalypse: Elisabeth Sutphen und Sebastian Geyer stemmen sich gegen Brian Michael Moore (Der Sänger) und Juanita Lascarro (Die Freundin)

In der Lichtspielszene kommt die nackte Außenfassade des Holzhauses dann durch geschickte Videoprojektionen zu einer realistischen Anmutung mit gemauerter Basis, Holzlamellenverkleidung und gedecktem Dach. Der triste Alltag des Paares nach der Bedrohung von außen ist zurückgekehrt. Durch wandernde Schattenwürfe von Bäumen auf der Hauswand werden Tagesläufe von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang simuliert. Die immer gleichen Abläufe der Kleinfamilie lassen Jahre trist verstreichen: Er verlässt mit Sohn und Aktentasche morgens das Haus, sie folgt etwas später, kehrt mit Einkaufstüten zurück und empfängt Sohn und Gatten am Ende des Arbeitstags. Hausfassade und Dach verwittern allmählich, die Kostüme wandeln sich, verorten das Geschehen zunächst in den 60ern, dann den 70ern und geleiten die Familie allmählich bis zur Gegenwart. Schließlich sieht man durch die Fenster des Hauses einen Ehestreit. Sie erscheint danach mit gepacktem Koffer und verlässt Mann und Kind (das erstaunlicherweise nicht gealtert ist). Damit endet die erste Hälfte des Abends.

Beim Betreten des Zuschauerraums nach der Pause ist der Mann bereits auf der Bühne, gealtert, mit schlecht sitzender Hose und schief geknöpfter Strickjacke als leicht verwahrloster Rentner kostümiert, und schlurft unentschlossen im leeren Innenraum des Hauses herum. Im Wohnzimmer türmen sich die leeren Styroporschachteln der täglich vom Pflegedienst vorbeigebrachten Mahlzeiten. Der Mann blickt auf sein Leben zurück, reflektiert seine Einsamkeit, kämpft mit seiner Todesangst und stirbt schließlich. Die Worte von Hofmannthals Jedermann fügen sich erstaunlich gut in diesen neuen Zusammenhang. Schließlich erscheint die gealterte Ehefrau (Erwartung). Unruhig streift sie um das Haus, schwelgt in Erinnerungen, gibt sich schwankenden Gefühlen hin, betritt endlich das Haus und findet dort den toten Mann.

Jeder der drei Hauptteile (die Musik zur Lichtspielszene untermalt lediglich eine kurze Transformation) könnte in seiner musikalischen und szenischen Qualität gut für sich alleine stehen. Des verbindenden Rahmens hätte es nicht bedurft. Gleichwohl erweist er sich als tragfähiges Konstrukt. Insgesamt bietet die Neuproduktion ein außerordentlich dichtes, abwechslungsreiches und fesselndes Musiktheatererlebnis mit einer ausgezeichneten Ensembleleistung in der ersten Hälfte und der Präsentation zweier Ausnahmekünstler auf dem Gipfel ihres Könnens in der zweiten Hälfte.

Man möchte jedem Opernliebhaber einen Besuch dieser Produktion dringend empfehlen, allein: bei sämtlichen Folgevorstellungen ist die Zahl der erlaubten Zuschauer nach den geltenden hessischen Corona-Regeln auf 250 reduziert. Rund 1.100 Plätze müssen pro Aufführung also unbesetzt bleiben. Die Oper Frankfurt hat bereits sämtliche Abonnentenplätze storniert und vergibt sie im Windhundverfahren neu. Freie Karten wird es daneben nicht geben. Es ist eine Schande.

Michael Demel / 18.01.2022

© der Bilder: Barbara Aumüller