Frankfurt: „Der ferne Klang“, Franz Schreker

Bericht von der Premiere am 31. März 2019

Ein Himmel voller Harfen

Die Handlung dieser Oper ist schlicht: Zwei Menschen, die füreinander bestimmt sind, kommen nicht zusammen. Der eine, der Komponist Fritz, jagt der Idee eines fernen Klanges hinterher und läßt die ihn liebende Grete dafür links liegen. Diese will sich darob zunächst das Leben nehmen, überlegt es sich jedoch anders, verdingt sich zunächst als Edelkurtisane in Italien und steigt schließlich zur Straßendirne ab. Nach vielen Jahren findet das Paar wieder zueinander, doch es ist zu spät für ihre Liebe. Er ist krank, zu Tode erschöpft, gezeichnet vom Mißerfolg seines Opus magnum, der Oper Die Harfe. Das Wiedersehen wird zum Liebestod. Er stirbt in ihren Armen.

Ian Koziara (Fritz) und Jennifer Holloway (Grete Graumann)

Diese Rührgeschichte wäre nicht der Rede wert, wenn Franz Schreker sie in seinem selbst verfaßten Libretto zur Oper Der ferne Klang nicht mit den Ingredienzien eines symbolisch aufgeladenen Naturalismus getränkt hätte. Das gilt für den großen Rahmen – der mystische Klang ist eine Chiffre für die unerfüllte Liebe – wie für einzelne Szenen. So erlebt etwa am Ende des ersten Aufzugs Grete beim Versuch, sich in einem See zu ertränken, in einer überromantisch gezeichneten Waldszene mit Mondaufgang eine innere Verwandlung. Verstärkt und gesteigert wird diese das Stück prägende Überromantik durch einen in unendlich vielen Klangfarben schimmernden Orchesterrausch. Sebastian Weigle entfaltet diese Klangpracht mit seinem Orchester, wie man es von seinen Strauss-Interpretationen kennt: sehr differenziert, detailreich und gut ausgehört. Schrekers Harmonik mit angeschärfter Tonalität und ausgiebig genutzten Ganztonleitern kann wie schweres Parfüm wirken, das dem Zuhörer auf die Dauer den Atem nimmt. Bei Weigle jedoch wird dieses Parfüm gut dosiert und so zerstäubt, daß man seine Komplexität genießen kann. Zu hören ist eine kulinarisch-elegante Interpretation. Sängerfreundlich ist sie obendrein. So kann sich ein exzellentes Ensemble geradezu ideal entfalten. Insbesondere die Besetzung der beiden Hauptpartien mit zwei jungen US-Amerikanern darf man als sensationell bezeichnen.

Jennifer Holloway präsentiert in der Rolle der Grete einen jugendlich-dramatischen Sopran, wie wir ihn schon lange auf keiner Bühne mehr erlebt haben. Ihr kommt zugute, daß sie auch in Mezzo-Partien zu Hause ist und damit über eine samtig-cremige Mittellage verfügt. Daß eine Sängerin, die nebenbei auch als Rosenkavalier-Oktavian und Ariadne-Komponist gebucht wird, dazu noch über eine derart leuchtende Höhe verfügt, ist ein kleines Wunder. Man mag sich gar nicht satt hören an dieser ohne Schärfen und Brüche über den Orchestergraben flutenden Stimmpracht.

Eine Entdeckung ist auch ihr Landsmann Ian Koziara, der mit dem Fritz sein Europadebüt gibt. Sein lyrisch grundierter Tenor hat seine Basis ebenfalls in einer satten Mittellage. Er ist zu jugendlich-dramatischer Emphase fähig. Beeindruckend ist sein differenzierter Einsatz von genau auf den Text bezogenen Stimmfarben. Selbst die bei vielen Tenören so heikle Integration des Kopfregisters gelingt ihm mit unangestrengter Eleganz. Keine Frage, daß hier eine der größten Hoffnungen der letzten Jahre für das jugendlich-dramatische Fach seine überzeugende Visitenkarte abgegeben hat. Man darf ihm wünschen, daß er die Klugheit besitzt, sein Stimmmaterial nicht zu früh zu verschleißen.

Jennifer Holloway (Grete Graumann; auf dem Boden liegend) und Ensemble

In den vielen mittleren und kleinen Rollen bewähren sich wie üblich die Frankfurter Stammkräfte. So macht Gordon Bintner als Graf in einer ausgedehnten Ballade auf seinen eleganten Bariton aufmerksam. In guter Form und mit nuancierter Diktion präsentiert sich Dietrich Volle in der Rolle des Dr. Vigelius. Theo Lebow kann seinen hellen und höhensicheren Tenor als Chevalier zur Geltung bringen. Iurii Samoilov ist mit seinem saftigen Bariton eine Luxusbesetzung für die kleine Rolle des Schmierenschauspielers. Verheißungsvoll ist die erste Begegnung mit dem Baß Anthony Robin Schneider als Wirt, der ab der kommenden Spielzeit das Ensemble verstärken wird.

Das für die Szene verantwortliche Produktionsteam um Regisseur Damiano Michieletto hat die kluge Entscheidung getroffen, den musikalischen Farbenrausch optisch nicht zu verdoppeln. Das Bühnenbild (Paolo Fantin) ist schlicht, von transparenten weißen Schleiern gesäumt, die mal als Projektionsflächen dienen, mal reale oder surreale Hintergrundszenen durchscheinen lassen. Schon hierin findet die Flüchtigkeit von Klang eine visuelle Umsetzung. Verstärkt wird dies durch Projektionen abstrakter Gebilde, wie sie in Lehrfilmen zur Darstellung von Schallwellen gebraucht werden. Der See in der Waldszene wird durch sich ausbreitende konzentrische Kreise dargestellt. Zu diesem eher dekorativ-abstrakten Symbolismus kommen noch immer wieder von der Decke herabgelassene Musikinstrumente. Der Himmel hängt hier weniger voller sprichwörtlicher Geigen als voller Harfen.

Der Regisseur arrangiert in dieser Kulisse die Handlung recht ansehnlich und lebendig, erfindet dabei aber das Rad nicht neu. Verdopplung von Hauptfiguren, die in unterschiedlichen Altersstadien gezeigt werden, Traumsequenzen in Videofilmen, Surrealismus, Textprojektionen – es gibt kaum ein Werkzeug zeitgenössischen Musiktheaters, das ausgelassen wird. Was die Produktion aber von Regietheater-Dutzendware unterscheidet, ist ihre souveräne Unangestrengtheit im Einsatz dieser Mittel. Es gibt keine erhobenen Zeigefinger und keine Ausrufezeichen. Sparsam eingesetzte Texteinblendungen zu Beginn jedes Aufzugs dienen der Gliederung. Sie führen mit sanfter Poesie und der überzeugenden Metapher der Jahreszeiten durch das Leben des tragisch scheiternden Paares, vom verheißungsvollen Aufbruch im Frühling bis zum allmählichen Verlöschen im Winter. Im Kontrast zu den beiden vorangegangenen Frankfurter Premieren besticht der Inszenierungsansatz durch seine Werkimmanenz. Da wird keine Idee aufgepfropft oder die Substanz zu vorgeblicher (horribile dictu) politischer Tagesaktualität umgebogen.

Die sanfte Poesie der Szene balanciert die rauschhafte Üppigkeit des Klanges aus. So rundet sich der Abend zu einem überzeugenden Gesamtbild. Das Publikum zeigt sich begeistert.

Michael Demel, 4. April 2019

Bilder: Barbara Aumüller