Frankfurt: „Der Traumgörge“, Alexander Zemlinsky (zweite Besprechung)

Die unerschöpflichen Möglichkeiten des Traums

ergründeten Alexander Zemlinsky und sein Librettist Leo Feld in ihrer Oper Der Traumgörge. Gekonnt mischte Leo Feld verschiedene Vorlagen zu seinem Libretto: Die Palette der Inspirationen reicht von Heinrich Heine (Der arme Peter) über Volkmann-Leander (Vom unsichtbaren Königreich) zu E.T.A. Hoffmann (Kater Murr) und Hermann Sudermann (Der Katzensteg). In all diesen Werken geht es um Eskapismus, um Verspottung wegen Andersartigkeit, um Hexenjagd, um Flucht vor der rohen Gesellschaft und der Gegenwart ins Land der Märchen und der Träume. Zemlinsky und Feld haben aus diesen Quellen ein alle Sinne überwältigendes Amalgam geschaffen, das nun endlich, fast 120 Jahre nach der Komposition so erklingen kann, wie es sich Zemlinsky wohl gewünscht hätte. Der Musikforscher und Dirigent Antony Beaumont beschreibt in seinem Text im ausgezeichneten Programmheft den spannenden und traurigen Leidensweg der Oper Zemlinskys, welche aufgrund widriger (sprich antisemitischer) Umstände ihre Uraufführung an der Wiener Hofoper unter der Leitung Gustav Mahlers nie erlebte und erst ab 1980 (in gekürzten/verstümmelten) Fassungen zu erleben war.

© Barbara Aumüller

Umso dankbarer ist man nun der Oper Frankfurt, dass sie erneut ein wichtiges Werk aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dem Vergessen entreißt (wie z.B. in der letzten Spielzeit Rudi Stephans Erste Menschen, oder davor Der ferne Klang). Entstanden ist eine szenisch und musikalisch rundum geglückte und tiefen Eindruck hinterlassende Produktion – eine Begegnung mit einer musikalischen Sprache, die einen während gut dreier Stunden in einen unentrinnbaren, fiebrigen Taumel versetzt.

Dafür verantwortlich ist das exzellent aufspielende Frankfurter Opern- und Museumsorchester unter der berauschenden Leitung von Markus Poschner. Was für sinnliche Klanglandschaften brechen da gleich mal sanften, mal aufbäumenden Wellen über einen herein. Komplexe, polyphone Spätromantik vom Allerfeinsten und Diffizilsten (bereits Zeitgenossen Zemlinskys sollen nach dem Studium des Klavierauszugs gesagt haben, dass Wagners Tristan im Vergleich zum Traumgörgen ein Spaziergang sei!). Markus Poschner entlockt dem Orchester einen Sound von subtiler Raffinesse, das ist mal parfümiert, doch nie zu schwer oder zu dick aufgetragen, mal von schwebender Polyphonie, bleibt stets transparent, wirkt aber nie akademisch. Die Sänger dringen stets wunderbar durch, können sich auf dem fein gewobenen Klangteppich getragen fühlen. Immer wieder schimmert leitmotivartig Brahms’ verfremdetes Wiegenlied Guten Abend, gut Nacht, mit Rosen bedacht durch, ein passendes Motiv für Görge.

In dieser Riesenrolle glänzt AJ Glueckert mit einer Selbstverständlichkeit, (mehr an Text als der Tristan), die restlos begeistert. In keinem Moment braucht er zu forcieren, alle Phrasen strömen mit einer traumwandlerischen Sicherheit und stupender Intonationsgenauigkeit in den Saal. An seiner Seite strahlt Zuzana Marková mit berührendem Timbre als wie verklärt strahlende Traumprinzessin im ersten Akt, vereint sich in Görges Traumerzählung mit ihm in ekstatischen Zwiegesang und meistert das lange Ausharren der Stimme in unangenehm hoher Lage vortrefflich. Im zweiten Akt besingt sie als Gertraud mit glühender Intensität ihr Schicksal als Ausgestoßene. Die beiden gestalten das Pfingsten – Duett mit unter die Haut gehender Leidenschaft. Im Epilog, diesem Schwebezustand, wo man nicht so recht sicher sein kann, ob dieses Happyend in der plötzlich überfreundlichen Dorfgemeinschaft nun Traum oder Wirklichkeit ist, singen Glueckert und Marková mit berührender Sanftheit vom Träumen und Spielen, bevor sich der Orchesterklang in rätselhaftem Pianissimo mit Streicherklängen in der höchsten Lage auflöst (oder „verdampft“, wie der Dirigent im Programmheft sagt). 

Das “lustige” Paar, das nichts vom Träumen hält, sondern mehr von Lust und Fröhlichkeit, wird mit umwerfender Komik, Charme und perfektem, einnehmendem Gesang von Magdalena Hinterdobler (Grete) und Liviu Holender interpretiert. Die beiden sind irre gut. Ein Pluspunkt ist einmal mehr das überragende Frankfurter Ensemble, aus welchem die mittleren und kleineren Partien besetzt sind: Juanita Lascarro (Marei), Dietrich Volle (Müller), Alfred Reiter (Pastor), Michael Porter (Züngl), Iain MacNeil (Kaspar), Mikolaj Trabka (Mathes), Barbara Zechmeister (Wirtin) und Andrew Bidlack (Wirt) bereichern die Aufführung mit großartigen individuellen Leistungen und bringen einem ihre Partien mit immenser Spielfreude näher.

© Barbara Aumüller

Das liegt auch am Regisseur des Abends: Tilmann Köhler! Er hat im schlichten, aber wirkungsvollen Bühnenbild von Karoly Risz mit seiner stimmigen, präzisen Personenführung dafür gesorgt, dass Regie, Musik und Text eine Einheit ohne irgendwelche Ablenkung bildeten, man regelrecht in das zwischen roher Gegenwart und eskapistischem Traum schwankende Geschehen eintauchen und sich bewegen lassen konnte. Die Kostüme von Susanne Uhl, mehrheitlich in Schwarz-weiß gehalten und an die nachnapoleonische Zeit angelehnt (es gab damals pogromartige Übergriffe auf Juden, auch in Frankfurt und Umgebung) trugen das ihrige zur stimmigen Inszenierung bei und kontrastierten wunderbar mit dem Bühnenbild aus lauter Holzdielen, aus denen in der Rückwand Öffnungen im Umriss schiefer Häuser eines Dorfes ausgeschnitten waren. Durch diese Öffnungen kamen der kraft- und wirkungsvoll singende Chor und der Kinderchor der Oper Frankfurt (Einstudierung: Tilman Michael), sowie die Statisterie zu eindrücklichen Auftritten. Lobend zu erwähnen ist auch das Lichtdesign von Jan Hartmann, dem es gelang, das Abdriften in Träume und dessen Aufeinanderprallen mit der Realität wirkungsintensiv umzusetzen. Großartig auch die Selbstbespiegelung Görges am Fluss und ein Wunder die Schattenwürfe an den Wänden, wo man sich fragte, woher denn das Licht für die Schattenwürfe in diesem fast hermetisch geschlossenen Raum überhaupt kommt. Auf dem ebenfalls aus Holzdielen bestehenden Zwischenvorhang war der Umriss einer Katze ausgesägt – eine witzige Anspielung auf den ersten Dialog zwischen Grete und Görge um die Katze in der Mühle, der Görge in die Geschichte von Kater Murr und dem Märchen vom Gestiefelten Kater abdriften ließ, der Grete nur verständnislos lauschte. Schon in diesem ersten Dialog wurde deutlich klar, dass die beiden nie zueinander finden werden, der poetische Träumer und die lebenslustige Grete. Was für ein Gegensatz zum Schlussbild, wo Gertraud auf einer Schaukel sitzt, Görge eine Rose zuwirft und die beiden gemeinsam träumen und spielen – Görge hat seine Traumprinzessin in Gertraud gefunden!

Fazit: Nach dieser rundum gelungenen Aufführung muß es Zemlinskys Oper einfach schaffen, Eingang ins Repertoire des Opernbetriebs zu erlangen! Immerhin wurde die Oper an diesem Abend für das Label NAXOS aufgezeichnet. Aber besser noch sieht man sie sich natürlich live in Frankfurt an.

Kaspar Sannemann, 27. März 2024


Der Traumgörge
Alexander Zemlinsky

Oper Frankfurt

23. März 2024
Premiere am 25. Februar 2024
(hier geht es zur Premierenkritik)

Inszenierung: Tilmann Köhler
Musikalische Leitung: Markus Poschner
Frankfurter Opern- und Museumsorchester

Trailer