Frankfurt: „Der Zar läßt sich fotografieren“, Kurt Weill / „Die Kluge“, Carl Orff

Die Oper Frankfurt präsentiert in der aktuellen Neuproduktion die ungewöhnliche Kombination einer „Zeitoper“ mit einer aus der Zeit gefallenen Oper.

Unter dem Schlagwort der „Zeitoper“ versuchten Komponisten in den 1920er Jahren, Impulse aus dem Alltagsleben für das Musiktheater fruchtbar zu machen. Das betraf die Stoffwahl mit zeitgenössischen Schauplätzen und Charakteren samt einer Vorliebe für die Einbeziehung technischer Neuigkeiten ebenso wie von Populärmusik, insbesondere von Elementen des Jazz. Kurt Weills Der Zar läßt sich fotografieren aus dem Jahr 1928 ist ein Musterbeispiel dafür. Die Handlung spielt zur Entstehungszeit in Paris. Eine berühmte Fotografin erhält die überraschende Nachricht, daß der Zar unterwegs sei, um sich von ihr fotografieren zu lassen. Vor dessen Eintreffen wird jedoch das Fotostudio von Terroristen gekapert, die Fotografin durch ein Double ersetzt und die Kamera mit einer Pistole präpariert, um so ein Attentat auf den Monarchen zu verüben. Der erweist sich als charmanter Schürzenjäger und macht der falschen Fotografin den Hof. Daraus entwickelt sich ein komisch-satirisches Schäferstündchen, an dessen Ende die Terroristen unverrichteter Dinge fliehen müssen.

Terroristen kapern ein Fotostudio: Peter Marsh (Der Anführer), Juanita Lascarro (Die falsche Angèle), AJ Glueckert (Der Gehilfe) und Ambur Braid (Angèle) / © Barbara Aumüller

Die Musik der durchkomponierten Kurzoper folgt dem Stil der „neuen Sachlichkeit“, ist von trockener Lakonie und parodiert gelegentlich Elemente der Operntradition des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Die echte Fotografin hat zu Beginn einen divenhaften Auftritt, den Ambur Braid mit großer Geste zu nutzen weiß. Der Zar tänzelt zu einem Foxtrott herein und hat vom Komponisten immer wieder operettenhaft-süffige Wendungen zugeschrieben bekommen. Domen Križaj glänzt in dieser Rolle mit seinem saftigen Bariton. Juanita Lascarro als falsche Fotografin scheint mehr als einmal Gefahr zu laufen, seinem Charme zu erliegen.

Keith Warner hat mit leichter Hand eine spritzige Boulevardkomödie inszeniert. Schon die perfekt getimten und mit der richtigen Dosis Slapstick gewürzten Interaktionen der auch darstellerisch brillanten Sänger bieten eine sehenswerte Show. Das Vergnügen wird dabei noch durch die Warner-typische Lust an Bildzitaten verstärkt. Darin nimmt er die auch im Libretto angesprochene Notwendigkeit zum Stillstehen vor der Kamera angesichts langer Belichtungsdauer auf. In Tableaux vivants werden, während im Vordergrund die Handlung vorangetrieben wird, vor wechselnden Hintergrundprospekten historische Momente dazu in Bezug gebracht, etwa die Ermordung Julius Cäsars oder die Affäre von John F. Kennedy mit Marilyn Monroe. So wird in 50 äußerst kurzweiligen Minuten ein Feuerwerk der Ideen abgefackelt, zu welchem das Orchester unter der Leitung der jungen Dirigentin Yi-Chen Lin mit rhythmischem Drive den passenden knackig-trockenen Soundtrack liefert.

Juanita Lascarro (Die falsche Angèle) und Domen Križaj (Der Zar) / © Barbara Aumüller

Der zweite Teil zeigt im Kontrast dazu eine aus der Zeit gefallene Oper. Carl Orffs Die Kluge, an der Oper Frankfurt im Kriegsjahr 1943 uraufgeführt, präsentiert ein aus verschiedenen Erzähltraditionen arrangiertes Kunstmärchen. Der Bauer hat beim Pflügen einen goldenen Mörser gefunden und in der Hoffnung auf Belohnung beim König abgegeben. Dieser zeiht ihn der Unterschlagung des zugehörigen Stößels und läßt ihn in den Kerker werfen. Seine kluge Tochter hatte diese Wendung vorausgesehen. Der König wird auf die Kluge aufmerksam, gibt ihr drei Rätsel zur Lösung auf, heiratet sie und entläßt den Bauern aus der Haft. Ein zweiter Handlungsstrang präsentiert einen Rechtsstreit um ein Eselfüllen, in welchem der König ein Fehlurteil fällt. Darob von seiner Frischvermählten bloßgestellt, verstößt er sie, erlaubt ihr jedoch, in einer Truhe mitzunehmen, woran ihr Herz hängt. Sie verabreicht ihm daraufhin einen Schlaftrunk und nimmt ihn selbst in der Truhe mit sich. Mit der Aussöhnung des Paars endet das Märchen.

Das Stück ignoriert die seinerzeitigen Strömungen des Musikteaters und amalgamiert tradierte ältere Formen zu etwas Neuem. Wie in der Comedia dell‘arte präsentiert es keine Individuen, sondern Typen. Wie in Shakespeares Dramen wird eine höfische Ebene mit dem derb-komischen Treiben von grotesken Figuren kontrastiert. Musikalisch führt der Komponist seinen in den Carmina Burana entwickelten reduzierten und archaisierten Stil fort, mischt ihn jedoch mit Elementen süddeutscher Volksmusik und schmissigen Songs für das Männergesangstrio der Strolche, die Erinnerungen an die Comedian Harmonists wecken.

Drei Strolche spielen Richter: Andrew Bidlack, Iain MacNeil und Dietrich Volle (Drei Strolche) sowie Sebastian Geyer (Der Mann mit dem Maulesel) / © Barbara Aumüller

Keith Warner und sein Produktionsteam sind nicht der Versuchung erlegen, auch hier einen Zeitbezug herzustellen. Keine Spur von Krieg und Nazi-Herrschaft, aber auch keine Spur von Märchen-Mittelalter. Das Bühnenbild im Hintergrund (Boris Kudlička) bleibt wie in Weills Zeitoper zuvor unverändert eine halbrunde Wand mit zahlreichen versetzten Fensterklappen, welche dadurch aussieht wie ein riesenhafter Adventskalender. Wo im ersten Teil das Mobiliar realistisch die 1920er Jahre heraufbeschwört, gibt sich der zweite Teil surreal mit zahlreichen frei im Raum stehenden und mobilen Türen. Wo die Kostüme (Kaspar Klarner) sich im ersten Teil stilecht in ihrem Zeitbezug geben, unterstreichen sie im zweiten Teil das Typenhafte. Die Kleidung des Königs etwa zitiert die Fantasieuniform Ludwigs II. samt Hermelinmantel, die Bauerstochter erscheint in ihrem ersten Auftritt als Double Greta Thunbergs – ein neunmalkluges, etwas nerviges, noch unreifes Gör mit Zöpfen und einer gelben Regenjacke – , das Kostüm des Kerkermeisters kopiert den Tod in Ingmar Bergmanns „Das siebente Siegel“. Hübsch ist der Einfall, die Kluge zum ersten Gesang des Königs zunächst als Marionette, dann in immer größeren Versionen als Stabpuppe auftreten zu lassen, die sich schließlich von den Führungsstäben löst und damit als reale Person emanzipiert. Am Ende ist es der König, der als Marionette erscheint. Köstlich gelingen die Szenen mit den drei Strolchen, die von Dietrich Volle, Iain MacNeil und Andrew Bidlack hinreißend gespielt und fabelhaft gesungen werden. In der Titelpartie überzeugt Elisabeth Reiter mit klarem, nuancenreichem Sopran und ausdruckvollem Mienenspiel. Den König legt Mikołaj Trąbka mit seinem kernigen Bariton differenziert an, zeigt zu Beginn ein weiches und sanftes Timbre, das aber schnell in despotische Härte umschlagen kann.

Mikołaj Trąbka (Der König) und Elizabeth Reiter (Die Kluge, Tochter des Bauern) / © Barbara Aumüller

Szenisch ist dieser Abend in beiden Teilen ein intelligenter Spaß und vokal ein Genuß. Zu Recht feiert das Premierenpublikum die Produktion mit begeistertem Schlußapplaus. Trotzdem verhindern zwei Kritikpunkte am zweiten Teil das Prädikat eines perfekten Abends.

Denn leider zeigt Dirigentin Yi-Chen Lin wenig Gespür für Orffs Klangsprache, was sich insbesondere, aber nicht nur an den gewählten Tempi zeigt. Es beginnt damit, daß sie den bedauernswerten Patrick Zielke durch die Eröffnungsarie des Bauern hetzt. Daß der Gastsänger über die dafür nötigen profunden Baßqualitäten verfügt, läßt sich allenfalls erahnen, weil er in dem aberwitzigen Tempo kaum dazu kommt, auch nur einen Ton richtig auszusingen. Schlimmer trifft es das gut aufeinander abgestimmte Gesangstrio der drei Strolche. Sie müssen in der Paradenummer „Als die Treue ward geborn“ vor dem angeschlagenen Tempo kapitulieren und entscheiden sich in ihrer Not dafür, wenn schon nicht beim Orchester, dann wenigstens beieinander zu bleiben. Die Dirigentin schert das nicht. Obwohl Orchester und Sänger im Laufe des Accelerando in der ersten Strophe schließlich mindestens einen Schlag auseinanderliegen, passiert das bei der Reprise genau so wieder. Man möchte kaum glauben, daß das vorher geprobt worden ist. Auch sonst wirkt im Orchestergraben vieles wie herunterbuchstabiert. Wenn man nicht die legendären Tonaufnahmen von Sawallisch und Eichhorn im Ohr hätte, würde man nicht meinen, daß es sich um eine raffinierte Partitur handelt, die unter den richtigen Händen am Pult knackigen Drive und atmosphärische Klangräume entwickeln kann. Womöglich hätte immerhin die starke Rücknahme der Lautstärke zum Wiegenlied der Klugen funktioniert, wenn die fein gewobenen Töne nicht unter einem rücksichtslosen polyphonen Gehuste und Gekeuche im Publikum untergegangen wären.

Schlußapotheose vor Lochblende / © Barbara Aumüller

Auch mit den ausgedehnten Sprechpassagen steht es nicht immer zum Besten. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, aus denen Alfred Reiter als Kerkermeister mit seiner vorzüglichen Diktion herausragt, sind die wichtigsten Partien mit Nicht-Muttersprachlern besetzt, welche mal mehr und mal weniger gut mit Orffs Texten zurechtkommen. So eindrucksvoll etwa AJ Glueckert den Mann mit dem Esel singt und so hinreißend Iain MacNeil einen der drei Strolche spielt, so anstrengend ist es, ihnen beim Rezitieren mit starkem amerikanischem bzw. kanadischem Akzent zu folgen. Da hilft mitunter nur ein Blick auf die englischen (!) Übertitel, um die Zusammenhänge zu erfassen (deutsche Übertitel gibt es leider bloß zum Gesang). Kurios ist dabei, daß das Produktionsteam ein zentrales Wort konsequent Bairisch aussprechen läßt: Der „König“ erklingt durchweg als „Könick“ statt als „Könich“. So ist es auch auf den beiden von Orff autorisierten Schallplatteneinspielungen dokumentiert, wo selbst die in Sachen Aussprache penible Elisabeth Schwarzkopf den „König“ am Ende knacken lassen mußte.

Insgesamt bietet dieser Doppelabend eine erfrischende Bereicherung des Repertoires. Keith Warner zeigt darin einmal mehr mit britischem Humor seine altmeisterliche Beherrschung des Regiehandwerks, und das Frankfurter Ensemble brilliert einmal mehr durch musikalische Exzellenz und hinreißende Spielfreude.

Michael Demel, 12. April 2023


Doppelabend:
Kurt Weill: Der Zar läßt sich fotografieren
Carl Orff: Die Kluge

Oper Frankfurt

Bericht von der Premiere am 9. April 2023

Inszenierung: Keith Warner
Musikalische Leitung: Yi-Chen Lin
Frankfurter Opern- und Museumsorchester

Trailer

Weitere Vorstellungen am 15., 23. und 29. April sowie am 4., 7., 11. und 13. Mai.