Frankfurt: „Die Nacht vor Weihnachten“, Nicolai Rimski-Korsakow

Und es leuchten die Sterne

Sie blinken nicht nur aus den hunderten von Lichtdioden, welche in den weiß gefliesten Bühnenraum von Johannes Leiacker eingebaut sind, sie leuchten auch aus dem Orchestergraben, von wo aus uns das Frankfurter Opern- und Museumsorchester unter der Leitung von Takeshi Moriuchi auf diesen so wunderbar entspannenden, schon beinahe psychedelischen Trip mitnimmt. Aber es ist ein Trip der guten Sorte, einer der nur Freude und Beseeltheit hinterlässt. Dies ist dem Zusammenspiel aller Beteiligten zu verdanken, welche Rimski-Korsakows so wunderbar konzipierte und von Wärme und Liebe zu den Menschen, aber vor allem auch zur Natur erfüllte Oper zum Ereignis machen. Der Regisseur Christof Loy führt die Personen mit liebevoller Charakterzeichnung (bis in die kleinste Chor-Rolle), niemand wird bloßgestellt oder der Schadenfreude preisgegeben. Frei nach Dostojewski entdeckt er in jeder Kreatur einen Funken Gottes.

© Barbara Aumüller

Hier wirkt selbst der Teufel (Andrei Popov) sympathisch und bekommt am Ende verdientermaßen großen Applaus. Ihm bei seinen akrobatischen Ausflügen in die Luft zuzusehen, die er mit der auf ihrem Besen reitenden, mannstollen „Hexe“ Solocha (mit satter Stimme, herrlichem Timbre und umwerfender Gestaltung: Enkelejda Shkoza) unternimmt, ist ein Riesenspaß. Aber auch der unglücklich verliebte Schmied Wakula, der von Georgy Vasiliev mit so wunderbar phrasierender, weich und angenehm timbrierter Tenorstimme gesungen wird, darf mit dem Teufel durch die Lüfte fliegen, um bei der Zarin die goldenen Schuhe für seine Angebetete zu erbetteln. Bianca Andrews gestaltet diese Zarin mit augenzwinkerndem Charme und großartiger stimmlichen Präsenz. Auch diese Szene am Hof in St. Petersburg, mit der herrlich steif choreografierten Rokoko-Polonaise des in der gesamten Oper klangintensiv gestaltenden Chors der Oper Frankfurt (Einstudierung: Tilman Michael) und den akrobatischen Tänzen der Leibgardisten, ist überaus unterhaltsam geraten. Christof Loys Inszenierung beeindruckt insbesondere in den poetischen, den heidnischen und den übersinnlichen Momenten, da breitet sich eine einfühlsame Beseeltheit aus, die echt berührt. Etwa wenn die jungfräuliche Göttin Koljada den Frühlingsgott Owsen sucht und dabei einem riesigen Tanzbären begegnet.

Die Göttin ist hier eine Ballerina. Eva Polne tanzt praktisch den gesamten Abend mit bezaubernder Anmut und Leichtigkeit auf der Spitze. Der Bär ist unglaublich lebenswert in seiner Tolpatschigkeit und entpuppt sich in Froschkönig-Manier als verzauberter Prinz: Pascu Orti schließt man sofort in sein Herz. Der Frühlingsgott schwebt dann später in bayerischer Krachlederner vom Bühnenhimmel (Gorka Culebras). Eine der umwerfensten Szenen ist natürlich die in der Kammer der liebeshungrigen Solocha, wo sie einen nach dem anderen ihrer Liebhaber empfängt. Da jedoch keiner dieser Dorf-Prominenten vom anderen wissen darf, werden sie kurzerhand in Kohlesäcke gesteckt. Das ist schwankhaft komisch und mit genau der richtigen Prise Derbheit inszeniert. Wirklich lustig. Hier und in weiteren Szenen glänzen neben den bereits erwähnten Enkelejda Shkoza als Solocha und Andrei Popov als Teufel auch Inho Jeong, was für ein differenziert gestaltender Prachtsbass, als Tschub, Peter Marsh als stürmischer klerikaler Liebhaber (Diakon Ossip) und Sebastian Geyer als mindestens so notgeiler Bürgermeister.  Die drei sind grandiose Komödianten mit ebenso grandiosen stimmlichen Gestaltungskräften.

© Barbara Aumüller

Changdaj Park begeistert mit seinem gerundeten, klar fokussierten Bassbariton als Panas, dem Kumpel des reichen Tschub, Thomas Faulkner gibt als grotesker Pazjuk auch optisch ein gewaltiges Bild ab. Enkelejda Shkoza gibt neben der Solocha auch noch eine der beiden Klatschtanten des Dorfes, die Frau mit der violetten Nase. Die Frau mit der gewöhnlichen Nase wird von Barbara Zechtmeister dargestellt. Bei beiden arbeitet die Kostümbildnerin Ursula Renzenrink gekonnt mit Klischees, so wie man sich halt etwas ordinäre Frauenzimmer aus Osteuropa vorstellt: Blond gefärbtes, aufdüpiertes Haar, geschmacklose „billige“, leicht nuttige Kleidung. Aber wiederum gelingt es Loy mithilfe seiner subtilen Personenführung, auch diese Gossip-Versessenen mit einem Funken an Liebenswürdigkeit anzureichern.

Julia Muzychenko singt die von Wakula angebetete Oksana: Stimmlich und darstellerisch eine Offenbarung. Was für eine be- und verzaubernde Sopranstimme ist da zu erleben! Nikolai Rimski-Korsakow hat ihr zwei ganz große, ausladende Arien geschrieben, eine koloraturgespickt und bravourös, die andere von lyrischer Traurigkeit umflort. Beiden Aspekten wird Julia Muzychenko mit ihrem jugendlich leuchtenden Sopran mehr als gerecht. Die Ensembles bereichert sie mit zauberhaft schwebenden Spitzentönen. In ihrer Darstellung paaren sich kecke Verspieltheit und schwärmerische Liebessehnsucht.

© Barbara Aumüller

Ein stellares Funkeln und Flirren erfüllt also diesen pantheistischen Kosmos, orchestral (nur die Hörner hatten stellenweise nicht ihren besten Abend) und szenisch, eine Aufführung, die am Ende beim Zuschauer mit der immensen Wärme und Erfüllung ausstrahlenden, grandiosen Schlusschor eine unfassbare Rührung evoziert. Weihnachten eben. Und Gott sei Dank hat Rimski-Korsakow diesen Schlusschor nicht als Apotheose für die Zarin, wie in Gogols Vorlage, konzipiert, sondern als Verneigung vor der Kunst, vor dem Dichter Gogol.

Die Vorstellungen sind praktisch ausverkauft – aber wer noch eines der Tickets ergattern kann, darf sich auf einen im wahrsten Sinne des Wortes „wunderbaren“ Opernabend freuen!

17. Dezember 2023, Kaspar Sannemann


Die Nacht vor Weihnachten
Nicolai Rimski-Korsakow

Oper Frankfurt

Wiederaufnahme: 15. Dezember 2023
Premiere: 5. Dezember 2021

Regie: Christof Loy
Dirigat: Takeshi Moriuchi
Frankfurter Opern- und Museumsorchester

Trailer