Verismo ist, wenn der Sitznachbar im Parkett zur Linken am Ende vergeblich mit den Tränen kämpft und etwas verlegen mit dem Taschentuch die Augen trocken tupfen muß. So geschehen in der Wiederaufnahme von Fedora an der Oper Frankfurt. Der Jubel, der sich dann nach dem letzten Ton erhebt, ist noch enthusiastischer als im ersten Aufführungszyklus, und das zu Recht: Die Premiere der Fedora vor eineinhalb Jahren war gut, die Wiederaufnahme nun ist besser. Das liegt zum einem am Orchester, das unter der Leitung von Carlo Montanaro mit einem süffigen Klang aufwartet und die disparaten Teile der Partitur zum selbstverständlichen Ganzen formt. Die Tempi wählt der Dirigent auf den Punkt treffend, behandelt sie aber flexibel. Montanaro ist ein gern gesehener Gast in Frankfurt, der einen besonderen Draht zu den Musikern zu besitzen scheint. Zum Schlußapplaus deutet der strahlende Dirigent zum Orchestergraben hin und zeigt pantomimische Umarmungsgesten, denen sich das Publikum gerne anschließen würde.
Der intensive Orchesterklang scheint auch Nadja Stefanoff in der Titelpartie zu einem Höhenflug verleitet zu haben. Schon in der Premiere konnte sie mit ihrem gut durchgeformten Sopran und ihrem präzisen Spiel überzeugen. Allerdings war seinerzeit eine gewisse Unterkühltheit zu registrieren. Davon ist nun nichts mehr zu spüren. Die Stefanoff hat sich die Rolle vollständig einverleibt. Jede Faser an ihr ist Fedora, jede Gefühlsregung kann sie mit ihren enormen stimmlichen Mitteln beglaubigen: den Schmerz über die Ermordung des Verlobten, die Rachephantasien, die Leidenschaft für den Geliebten Loris, die Verzweiflung über ihre Verstrickung in den Tod von dessen Bruder und Mutter, ihre Hoffnungslosigkeit am Ende. Das Publikum fühlt und leidet mit ihr. Dazu paßt sie mit ihrer noblen Erscheinung und ihrer Darstellungskunst perfekt zum Regiekonzept. Man soll ja mit Superlativen sparsam umgehen, sonst nutzen sie sich ab, aber diese Leistung kann man nicht anders bezeichnen als „grandios“.
Nach dem gehypten Schallplattenstar Jonathan Tetelmann in der Premiere ist die männliche Hauptpartie des Loris nun mit Alfred Kim besetzt. Das ehemalige Frankfurter Ensemblemitglied demonstriert in seinem Rollendebüt einmal mehr seine Qualitäten im italienischen Fach. Sein Tenor verfügt über eine solide Mittellage, beeindruckt aber mit seiner bombensicheren Höhe, mit der er manchen als Star gehandelten Tenor-Kollegen locker in den Schatten stellt. Mikołaj Trąbka singt seinen ersten De Siriex mit voluminösem, ein wenig hart klingendem Baßbariton. Bewährt in ihren Partien sind die quirlige Bianca Tognocchi als Olga Sukarew und Frederic Jost mit seinem sonoren Baß als Polizeikommissar. Mariusz Kłubczuk, Solorepetitor am Haus, beeindruckt erneut mit seiner Virtuosität in dem wichtigen Klavierpart im zweiten Akt und fügt sich auch szenisch als Starpianist im Frack gut in das Geschehen ein. Bis in die kleinsten Nebenrollen hinein wuchert die Oper Frankfurt mit dem enormen Leistungsvermögen ihres vorzüglichen Ensembles.
Die szenische Präsentation macht den Abend zum vollkommenen Genuß. Sehr einnehmend wirkt schon zu Beginn das optisch attraktive Bühnenbild (Herbert Murauer). Es zeigt einen bürgerlichen Salon in Fin-de-siècle-Anmutung, der vollständig samt den Türen mit fliederfarbenen Stofftapeten bespannt und in vergoldete Holzleisten eingefaßt ist. Der Bühnenprospekt wird bestimmt von einem überdimensionierten Bilderrahmen, dessen Leinwand ebenfalls mit der Stofftapete bespannt ist. Hierauf läßt Regisseur Christof Loy immer wieder Videos projizieren. Was in anderen Inszenierungen oft ein Ausdruck von szenischer Einfallslosigkeit ist, gerät hier zum Coup. Zunächst gibt es stummfilmhafte Nahaufnahmen der Protagonistin, die dem Publikum auch noch die kleinsten Nuancen in der Mimik nahebringen. Auch gibt es Einblendungen von Erinnerungsbildern, etwa ein Porträt von Fedoras abwesendem Verlobtem, während sie gerade von ihm schwärmt. Dann aber nutzt die Regie Livekameras, um das Bühnengeschehen aus anderen, dem Publikum auf der Guckkastenbühne verborgenen Blickwinkeln zu präsentieren und etwa aus sich öffnenden Türen heraus zu filmen oder sogar Parallelaktionen in (vermeintlich) angrenzenden Räumen zu zeigen. Höchst effektvoll wird auf diese Weise das Sterben des durch ein Attentat verwundeten Verlobten bebildert. So kommt es zu faszinierenden räumlichen Weitungen, zugleich zu einem virtuosen Spiel von Gleichzeitigkeit und Ungleichzeitigkeit. Die heikle Klaviermusikszene im zweiten Akt wird ebenso werkdienlich wie bühnenwirksam realisiert: Die Leinwand innerhalb des riesenhaften Bilderrahmens hebt sich vorhangartig und gibt den Blick auf einen dahinterliegenden weiteren Salon frei. Dort wird in räumlicher Distanz ein Klaviervirtuose von einer Abendgesellschaft für seine Darbietungen bewundert, während im vorderen Teil der Bühne die vermeintliche Enttarnung von Loris als Mörder ihren Lauf nimmt. Die Entscheidung der Regie für die deutliche räumliche Trennung dieser Parallelaktionen ist dramaturgisch schlüssig. Der letzte Akt ist dann handwerklich konventioneller geraten, besticht aber ebenso durch plausible Personenregie und gute darstellerische Leistungen.
In gerade einmal 100 Minuten pausenloser Aufführungsdauer wird hier ein emotional packender Opernthriller dargeboten, der einen unwiderstehlichen Sog entwickelt. Durch herausragende Protagonisten und ein Orchester in Hochform bekommt man Oper zum Genießen geboten. Wegen seiner attraktiven Spielfilmästhetik und seiner überschaubaren Länge ist der Abend ideal für Opernanfänger und Gelegenheitsbesucher.
Michael Demel, 17. Oktober 2023
Fedora
Melodramma in drei Akten von Umberto Giordano
Oper Frankfurt
Wiederaufnahme am 15. Oktober 2023
Premiere am 3. April 2022
Inszenierung: Christof Loy
Musikalische Leitung: Carlo Montanaro
Frankfurter Opern- und Museumsorchester
Weitere Aufführungen am 20. und 28. Oktober sowie am 12. und 17. November 2023